Schlechte Nachricht

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"Es gehört nun einmal zur menschlichen Psyche, dass man die unangenehmen Dinge mit der Zeit verdrängt und die Erinnerung an die positiven bewahrt"

(Lothar de Maizière)

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"Nun, Lilie, nach eingehenden Test sind wir uns sicher, dass deine Erinnerungen zurück kommen werden. Das ist nicht gesundheitlich sondern psychisch erklärbar. Du verdrängst schlicht und ergreifend das, was du erlebt hast. Und dies hat angefangen, nachdem du deinen ersten Auftritt mit zehn hattest. Du weißt, wo du wohnst, welche Handynummer du hast, welchen Pincode und auch weißt du über die politische und wirtschaftliche Lage bescheid. Nur verdrängst du alles, was mit dir selbst zu tun hat. Du machst das nicht mit Absicht, es ist ein Schutzmechanismus deines Geistes. Du wirst dich entweder Stück für Stück wieder erinnern oder die Erinnerungen werden auf einen Schlag zurück kehren. Das wird die Zeit zeigen. Ich werde dich jetzt mit Schwester Betty alleine lassen. Wenn sie zu viel redet, schmeiss sie einfach raus", versuchte der Arzt seinem Vortrag etwas scherzhaftes zu verleihen, aber das schaffte er nicht. Wie denn auch. Mein Leben war so scheiße, dass ich es wieder vergessen habe. Respekt, konnte man eigentlich noch tiefer sinken?

"Also, ich werde dir jetzt ein paar Bilder zeigen, die ich im Internet gefunden habe. Du musst mir bei jedem sagen, ob du dazu was weißt, okay?", unterbrach Schwester Betty meine Gedanken. Sie war eigentlich ein Model, nur zwanzig Zentimeter zu klein geraten. Ihre kastanienbraunen Haare umrahmten in sanften Zügen ihr wunderschönes Gesicht, aus dem mich ihre braunen Augen anglänzten. Sie war in den dreizigern und war bei jedem meiner Krankenhausaufenthalte meine Krankenschwester bisher gewesen. Scheinbar hatte sich das nicht geändert.

Sie zeigte mir ein Foto von einem Mädchen, dass keine Haare hatte und doch trotzdem in die Kamera lachte.

"Das war ich mit neun. Um genau zu sein, mein neunter Geburtstag", erinnerte ich mich daran zurück. Sie zeigte mir ein neues Bild. Dies kannte ich nicht. Nur mich erkannte ich immer wieder. Bei jedem Bild. Dann zeigte sie mir das Bild von einem Plakat.

"Das ist von Schwanensee!", rief ich direkt. Tja, das war schon immer meine Traumrolle. Einmal den weißen und einmal den schwarzen Schwan tanzen. 36 mal eine Pirouette drehen. Das war mein Ziel.

"Es ist deine Vorstellung. Du tanztest dort gestern sowohl den weißen als auch den schwarzen Schwan. Und warst bezaubernd. Bis du auf der Bühne zusammen gebrochen bist. Ein Mann hat dich zum Glück direkt gerettet", erzählte sie mir und hielt mir das nächste Foto hin. Es zeigte einen Mann, der über mir kniete.

"Jonothan McKan", kam es geflüstert aus meinen Mund.


Jonothan POV

NIE. NIEMALS. IN. MEINEM. LEBEN. TRINKE. ICH. NOCH. EINMAL!

Mein Schädel brummte wie nichts gutes. Und doch wusste ich noch genau, warum ich das getan hatte. Lilie war zusammen gebrochen. Sie wäre tot, wäre ich nicht direkt da gewesen. In dem Stress hatte sie vergessen, ihre Medikamente zu nehmen. Wie dumm war sie nur! Am liebsten hätte ich sie dafür über das Knie gelegt und sie so hart danach gefickt, dass sie eine Woche nicht mehr richtig sitzen könnte, nur damit sie nie mehr so töricht war.

Langsam und vorsichtig hievte ich mich aus meinem Bett. Nachdem ich eine Aspirin mit Wasser herunter gespült hatte, nahm ich eine kalte Dusche, damit ich meine Vorstellungen wegspülte und auch meine Morgenlatte bekämpfte. Beides half einigermaßen. Zudem hatte ich einen ziemlich klaren Kopf, als ich mit Jogginghose und einem Shirt bekleidet aus dem Schlafzimmer trat. Ich ging zur Minibar und nahm mir einen Orangensaft. Also frisch schmeckte er eindeutig besser, aber selbst ich konnte nicht alles haben.

Ich sah auf mein Handy, da ich dieses gestern ignoriert hatte. Es geht schon nicht die Welt unter, wenn ich einmal nicht zu erreichen war. Vielleicht bricht die Börse zusammen, das schon, aber kein Weltuntergang.

War ja klar. 132 Mails. 45 Nachrichten. 76 Anrufe. Bei den Mails war nichts wichtiges bei, weshalb ich sie an meinen Sekretär weiter leitete. Dieser würde sie alle nochmals lesen und vielleicht ein oder zwei an mich weiter leiten, ansonsten würde er alle beantworten. Die Nachrichten waren alle samt von Aurelie. Erst flehte sie, dann drohte sie, dann flehte sie doch wieder. Sie war wirklich verzweifelt, doch es interessierte mich nicht. Sie bot mir zwar einiges, aber vor allem nervte sie mich nur noch weiter. Der größte Teil der Anrufe waren ebenfalls von meiner zukünftigen Exfrau. Einige Male hatte auch mein Anwalt angerufen, da ich ihm gestern noch zwei Aufträge gegeben hatte. Und dann waren da noch einige Geschäftspartner. Und dieser eine Anruf. Vom Krankenhaus.

Genau gestern, als ich es ignoriert hatte. Ich hatte ihnen gesagt, sie sollten anrufen, wenn sie aufwacht oder... Nein! Das würde es nicht sein! Niemals! Sie war letzte Nacht nicht gestorben! Ich drückte auf den grünen Hörer, damit ich den Anrufbeantworter anhören konnte.

"Entschuldigen sie die späte Störung, aber die Patientin Lilie Neauveu ist soeben aufgewacht. Das ist aber nicht das einzige. Sie kann sich an die letzten sechs Jahre nicht erinnern, weshalb sie nicht gegen ihren Vater und gegen ihren Tanzlehrer aussagen kann. Zusätzlich haben wir eine Entdeckung gemacht. Es tut mir sehr leid wegen der schlechten Nachricht, aber an ihrem Loch im Herzen....Wir haben einen Tumor genau dort gefunden."

NEIN!!!!!!!


Sold Love *slow updates*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt