Kapitel 3

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Es klopfte erneut.

»Theodore, ich bin Professor McGonagall und ich möchte gerne mit dir sprechen«, sagte eine freundliche Frauenstimme. Theo horchte auf. McGonagall? Das war doch der Name, der auf dem Brief stand. Mit wild klopfendem Herzen stand er auf und ging langsam zur Tür. Unsicher blieb er davor stehen. Sollte er wirklich öffnen? Aber was für eine Wahl hatte er schon? Er war alleine, ohne Mutter und Vater. Hatte niemanden, zu dem er gehen konnte. Er hatte zwar ein paar Freunde, aber bei denen wohnen konnte er nicht.
Bevor er die Hand an den Türknauf legte, wischte er sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. Er atmete noch einmal tief durch und zog sie auf. Vor ihm stand eine große Frau, mit schottengemustertem Umhang. Sie lächelte ihn freundlich an.

»Darf ich hereinkommen?«, fragte sie freundlich und blickte in den Raum hinein.

»Na- Natürlich«, stammelte Theo und trat einen Schritt beiseite, so dass die Professorin eintreten konnte. Sie legte ihren Mantel über die Couchlehne und blickte sich neugierig in dem Raum um. Theo schloss die Tür und blieb dort stehen. Er wusste nicht, was er tun sollte.

»Wollen wir uns nicht setzen?«, fragte Professor McGonagall, woraufhin Theo nickte. Er ging langsam zur Couch und setzte sich an eines der beiden Enden, von wo aus er die Frau anstarrte.

»Theodore, es tut mir unendlich leid, was du die letzten Stunden alles durchleben musstest«, sagte sie ehrlich. Theo senkte den Kopf und stumm liefen ihm ein paar Tränen aus den Augen. Er fragte sich, wie viel man wohl weinen konnte, bis einem die Tränen ausgingen.

»Theo, wie geht es dir?« Er zuckte nur mit den Schultern und wischte sich mit der Hand die Tränen von der Wange und schniefte leise.

»Hier nimm.« Sie reichte ihm ein Taschentuch, das er dankbar annahm. Hielt es aber nur in der Hand, ohne sich die Nase zu putzen.

»Was- Was geschieht jetzt mit mir?«, flüsterte er. Als er den Kopf hob, sah er der Frau direkt in die Augen. Er konnte tiefes Mitgefühl erkennen, aber auch ein bisschen Neugierde. Sie lächelte sanft.

»Nun, wenn du möchtest, nehme ich dich mit in die Winkelgasse.«

»Wi- Winkelgasse?«, fragte er überrascht. »Was ist das?«

»Wie viel weißt du über die Welt der Zauberer, Theodore?« Professor McGonagall sah ihn neugierig an. Er schüttelte den Kopf.

»Nichts, Ma'am. Ich habe gestern erst davon erfahren, dass es überhaupt Zauberer gibt. Tut mir leid.«

»Das muss dir nicht leid tun. Es gibt viele Kinder, die erst davon erfahren, wenn sie ihren Brief bekommen.« Der Junge schüttelte abermals den Kopf.

»Nein, den Brief habe ich erst heute bekommen. Meine Mum-«, er brach ab, da er sich sicher war, dass er wieder anfangen würde zu weinen, wenn er jetzt weitersprach. Er atmete tief durch und schwieg.

»Okay, was hältst du davon, wenn wir dennoch als Erstes in die Winkelgasse gehen und ich erzähle dir dort alles, was du wissen möchtest?«, sagte sie freundlich.

»Okay«, flüsterte er.

»Dann geh dich eben frisch machen, ich warte so lange auf dich«, sagte sie und Theo nickte. Er stand auf, ging ins Bad und als er wieder herauskam, hatte er neue Sachen an. Frisch geduscht fühlte er sich auch gleich etwas besser und freute sich sogar ein klein wenig darauf, die Welt der Zauberer kennenzulernen. Auch wenn er sie am liebsten mit seiner Mum zusammen erkundet hätte. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich ins Herz, aber zu seiner Verwunderung fing er nicht wieder an zu weinen. Das hatte er unter der Dusche eine ganze Weile getan. Er hatte es nicht verhindern können und irgendwann liefen die Tränen mit dem Wasser an seinem Körper hinab. Er schüttelte ein wenig den Kopf und sah dann zu Professor McGonagall auf, die sich scheinbar in dem kleinen Wohnzimmer umgesehen hatte.

»Bist du bereit?«, fragte sie behutsam und Theo nickte. »Hast du deinen Brief dabei?« Schnell ging er zu dem Sofakissen, hinter dem er den Brief versteckt hatte und steckte ihn sich in die Hosentasche.

»Gut, dann lass uns gehen.« Theo atmete einmal tief durch und folgte ihr zur Haustür. Schweigend ging er neben ihr her, immer den Kopf gesenkt und als sie auf die Straße traten, empfing ihn eine warme Sommerbrise, die ihm durch die Haare blies. Er schaute sich in seiner Straße um. Nichts hatte sich verändert und doch fühlte sich alles so leer und falsch an. Für ihn hatte sich alles verändert in den letzten vierundzwanzig Stunden. Seine Mum fehlte ihm unendlich und er hatte beschlossen, nicht mehr wütend auf sie zu sein, weil sie ihm nie etwas erzählt hatte. Er vermisste sie und war traurig darüber, dass sie ihn nie wieder in den Arm würde nehmen können. Dass sie nie wieder zusammen über blöde Filme im Fernsehen lachen konnten. Er lachte leise auf, als er sich an einen Abend vor einem Jahr erinnerte. Es war dunkel, kalt, aber sie schauten einen alten schwarz-weiß Film, der im Free-TV gezeigt wurde. Sie vertonten den Film selber und aßen eine Menge ungesunden Süßkram. Kurz, sie hatten eine Menge Spaß. Es kam ihm banal vor, dass er sich ausgerechnet an einen solchen Abend erinnerte, aber es war ein guter Abend gewesen. Ein fröhlicher.

»Lassen Sie uns gehen«, sagte er zu Professor McGonagall, die zustimmend nickte und ihn in eine Richtung wies. Sie fuhren mit der U-Bahn in die Stadt und Theo stellte belustigt fest, dass die Professorin sich alles andere als wohl zu fühlen schien.

»Gehts Ihnen nicht gut?«, fragte er besorgt, als er festgestellt hatte, dass sie leicht grün angelaufen war. Sie antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Als die Ansage der Bahn die Station »Leicester Square« ausrief, stand Professor McGonagall erleichtert auf und ging zu einer der Türen. Ratternd blieb die Bahn stehen und sie liefen im Strom mit den Muggeln hinaus auf den Bahnsteig, wo die Professorin erst einmal tief Luft holte.

»Merlin sei Dank. Wir haben es endlich geschafft«, flüsterte sie. Gemeinsam traten sie in das Sonnenlicht und in das Gewusel der Metropole. Theo war nicht häufig in der Stadt unterwegs gewesen und ihn überforderten ein wenig die vielen Menschen. Instinktiv wollte er nach der Hand seiner Mum greifen, aber als er die Hand ergriff, war sie anders als sonst. Größer. Schnell zog er sie zurück, als er realisierte, dass nicht seine Mutter, sondern Professor McGonagall neben ihm herlief.

»Entschuldigung«, stammelte er und lief leicht rosa an.

»Das macht doch nichts«, sagte sie liebevoll. »So, da wären wir.« Sie standen vor einer schäbigen, schwarzen Tür, über der ein verwittertes Schild hing.

»Zum Tropfenden Kessel«, las Theo laut vor. »Und hier kann ich all meine Sachen kaufen?« Auf einmal kam ihm ein Gedanke. »Womit soll ich denn das alles bezahlen?«, sagte er panisch. »Ich habe doch gar kein Geld.« Er blickte McGonagall mit großen Augen an.

»Da mach dir mal keine Sorgen. Es gibt Förderprogramme für Familien mit wenig Einkommen. Ich habe diesbezüglich schon alles in die Wege geleitet«, sagte sie freundlich. »Aber jetzt lass uns reingehen, bevor die Muggel sich noch wundern, weshalb wir vor einem geschlossenen Pub stehen.« Muggel? Was sind denn Muggel? Und wieso ein geschlossener Pub? Theo fand, dass der Pub zwar schäbig aussah, aber nicht so, als wäre er geschlossen. Aber er nickte nur und folgte der Frau ins Innere.

Hier war es düster, auf den Tischen und an den Wänden spendeten Kerzen spärliches Licht. Es waren noch keine Gäste dort, aber hinter dem Tresen konnte Theo eine Gestalt ausmachen.

»Ah, Professor. Womit kann ich Ihnen heute dienen?«, fragte der Mann höflich.

»Danke, Tom. Ich begleite heute unseren jungen Theodore in die Winkelgasse.«

»Gewiss, gewiss. Willkommen Theodore«, sagte der Mann und streckte dem Jungen die Hand entgegen.

»Danke«, sagte er verlegen, nahm die Hand aber an.

»Gut, dann bis später, Tom. Wir haben es ein wenig eilig.«

»Natürlich, Professor. Einen wunderschönen Tag wünsche ich.«

Theo sah den Mann belustigt an, folgte aber der Professorin durch den Schankraum, hin zu einer Art Hinterhof. Sie ging auf eine der Mauern zu und klopfte gegen ein paar Steine, die sofort anfingen sich zu bewegen. Theo sah mit offenem Mund dabei zu und konnte gar nicht fassen, was er da zu sehen bekam.

»Wow«, entfuhr es dem Jungen unwillkürlich, als er nun nicht mehr eine Wand sich gegenüber hatte, sondern einen Durchgang in eine ganz neue Welt.

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