Prolog

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Die heftigen Schmerzen schüttelten erneut Lucas Körper. Er legte sein Tablet an die Seite, auf dem er bis gerade gelesen hatte. Das wollte er auf keinen Fall versehentlich zerstören.

Die Therapien und Medikamente schlugen immer weniger an. Der Krebs fraß sich mit rasanter Geschwindigkeit durch seinen Körper und machte ihn immer schwächer. Ein bisschen musste er noch durchhalten. Bei dieser Geschichte konnte er nicht mittendrin aufhören.

Es war eine dieser Geschichten, bei denen man beim erneuten Lesen hofft, sie möge sich ändern. Es war seine Lieblingsgeschichte. Die Protagonisten hatten es ihm angetan wie immer, der liebe, süße Prinz Nael und der besitzergreifende Drache Inoue Takahiro.

Schmerzerfüllt schnappte Luca nach Luft und griff nach dem Knopf, um das Personal zu rufen. Die Nachtschwester kam und verabreichte ihm Opiate, das einzige, was seine Schmerzen zumindest zum Teil linderte. Das Mittel machte schläfrig und er drehte sich erneut auf den Rücken.

Die Geschichte war für diesen Moment vergessen, denn seine Gedanken waren aufs Neue erfüllt von Jack und Liz. Wie sehr konnte man einer sterbenden Person eigentlich den Mittelfinger zeigen? Seine Schwester war ein Miststück, das war ihm klar, doch von Jack hatte er mehr erwartet.

Außerdem hatte er gedacht, Jack sei durch und durch schwul, das hatte dieser zumindest behauptet. Das erklärt auch, warum er ihre Beziehung nie an die große Glocke hängen wollte. Die beiden waren fünf Jahre lang zusammen gewesen und hatten sich sogar verlobt, bevor der Krebs in Lucas Lunge diagnostiziert wurde.

Er hatte natürlich sofort mit der Therapie begonnen, doch nichts schien zu wirken. Bei dem rasanten Wachstum und den vielen gestreuten Krebszellen, hatte man Luca nicht mehr lange zu leben gegeben. Höchstens ein paar Wochen nach dem Abbruch der Chemotherapie.

Jack hatte sich über die Zeit immer mehr zurückgezogen und ihn immer seltener besucht, doch niemals hätte er gedacht, dass sein Verlobter Trost im Bett seiner Schwester suchen würde. Luca hatte ihn bedingungslos geliebt und auch in schweren Zeiten, immer zu ihm gehalten. Er dachte, Jack würde diese Gefühle erwidern. Doch nun war Luca völlig allein.

Mit diesem Gedanken und den frischen Tränenspuren auf seinem Gesicht schlief er endlich ein.

An den folgenden Tagen ging es Luca wieder etwas besser und er kam zum letzten Kapitel der Geschichte. Wie immer flossen ihm Tränen über die Wangen, als der Protagonist von seinem Ehemann verraten und dem Tod überlassen wurde. Natürlich hatte er sich gewünscht, es würde nun doch endlich ein Happy End geben. Doch eine Geschichte änderte sich nunmal nicht, weder von heute auf morgen, noch in zehn Jahren.

Doch kaum, dass er das letzte Kapitel beendet und sich die Tränenspuren vom Gesicht gewischt hatte, kehrten die Schmerzen zurück. Es war schlimmer als zuvor und Luca war klar, dass dies sein Ende bedeutete. Seit Wochen versuchte er, sich darauf vorzubereiten, doch wie soll man sich auf seinen eigenen Tod gefasst machen? Niemand wusste, was danach kam. Und er war doch erst 24 Jahre alt, hatte kaum etwas von der Welt gesehen und noch so viel vorgehabt. Wie soll man dann seinen Tod akzeptieren?

Die Schmerzen wurden trotz der Opiumspritzen immer schlimmer und eine leichte Dunkelheit senkte sich über seine Augen. Er dachte an den Vollmond, der gestern so wunderschön ins Zimmer geschienen hatte und presste kräftig die Augen zusammen.

»Bitte, wer auch immer da im Himmel ist, wer auch immer zuhört. Lass das hier nicht mein Ende sein. Lass mich nicht einfach verschwinden! Bitte, gib mir noch eine Chance, etwas aus meinem Leben zu machen. Lass mich die Welt sehen. Ich will nicht sterben!«

Mit diesen leise vor sich hin gemurmelten Wünschen fielen Lucas Augen zu und er versank in der schwerelosen Dunkelheit.

Reincarnation (ONC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt