Lucas anfängliche Sorge erwies sich als unbegründet. Natürlich war er nicht allein mit einem so hochrangigen Gast in der Hauptstadt. Ein ganzes Dutzend der besten Wachen begleitete sie, darunter sogar sechs Fae, die aufgrund ihrer magischen Kraft eingestellt worden waren. Es waren alles mächtige Elementbeschwörer. Außerhalb einer Anstellung bei seiner Majestät oder einer ausdrücklichen schriftlichen Erlaubnis war es den Fae grundsätzlich verboten, ihre Kräfte einzusetzen. Sie wurden generell eher wie Menschen zweiter Klasse behandelt.
Luca fühlte sich leicht unwohl, da er nicht wusste, wie die Wachen zu dem siebten Sohn des Königs standen, doch mit Inoue an seiner Seite würde hoffentlich nichts passieren. Der Vorteil war, dass die Wachen sich in der Stadt bestens auskannten und sie an die ganzen schönen Orte führen konnten. Sie sahen sich ein paar Sehenswürdigkeiten an und gingen im Anschluss daran in ein schickes Restaurant, das ihnen einen gemütlichen privaten Raum zuwies.
Um weniger Aufmerksamkeit zu erregen, als sie es ohnehin schon taten, hatte der Drache seine Hörner verborgen. Abgesehen von den noch immer spitz zulaufenden Ohren hätte er beinahe als Mensch durchgehen können.
Luca versuchte, Takahiro mehr über die Drachen auszufragen, doch der schien mehr daran interessiert zu sein, mit dem Prinzen zu flirten. Immer wieder kam es zu fast schon zufälligen Berührungen, und mehr als einmal hatte Inoue nach einer Haarsträhne oder seiner Hand gegriffen. Die Augen des Drachen waren nur selten von Luca abgewendet. Er konnte durchaus verstehen, dass Nael sich in diesen Mann verliebt hatte. Wenn er das Ende der Geschichte nicht kennen würde, hätte er sich vermutlich genauso in diesen verführerischen Drachen verliebt.
Als es langsam dunkler wurde, wollte Luca wieder zurück zum Palast. Doch ein plötzlicher Aufruhr unterbrach ihren Plan. In einer Seitengasse, die in die ärmeren Gebiete führte, schrie plötzlich eine junge Frau. Noch ehe jemand reagieren konnte, war Inoue schon unterwegs in die entsprechende Richtung und Luca lief eilig hinterher.
Der sich bietende Anblick ließ den jungen Mann erschaudern. Ein dünner, vermummter Mann hockte auf dem Boden und nagelte mit seinen Beinen eine junge Frau unter sich fest. Sie versuchte, sich zu widersetzen, doch er schien stärker zu sein. Als sie den Kopf drehte, entdeckte Nael ihre Spitzen Ohren, die sie wohl mit der im Dreck liegenden roten Mütze zu verbergen versucht hatte.
»Hör auf dich zu wehren, du dreckige Schlampe. Sei lieber froh, dass überhaupt jemand dich besteigen will. Und jetzt gib mir die Tasche und hör endlich auf dich zu wehren!« Seine schmierige Stimme verursachte einen angewiderten Schauer bei Luca, und als er ein Messer in der Hand des Täters aufblitzen sah, blieb er ruckartig stehen. Inoue ließ sich davon nicht beirren.
Leise schlich er sich an den Mann an und entzog ihm mit einem schnellen Griff die Waffe. »Hey, argh!« In einer fließenden Bewegung legte der Drache seinen Arm um den Hals des Mannes und zog ihn von der Frau weg. Sie schnappte sich die Mütze und ihre Tasche, während sie mit vor Angst geweiteten Augen und einem von Tränen verschmierten Gesicht vor den Männern zurückwich.
Zwei der Fae aus dem Wachtrupp positionierten sich an den Ausgängen der Gasse. Beide schlossen konzentriert die Augen und hoben ihre Hände. Auf der einen Seite schossen dicke Pflanzenstiele aus dem Boden und bildeten ein dichtes Blattwerk, sodass niemand auch nur ansatzweise hindurchsehen oder die Gasse hätte betreten können. Auf der anderen Seite sammelte sich Wasser am Boden und floss in die Höhe, bis es eine schimmernde Wand bildete. Mit einem Hauchen des Beschwörers verwandelte sich die halb durchsichtige Wasserwand in eine milchige Eismauer, die ebenso wenig Blicke, doch mehr Licht als die Wurzelwand auf der anderen Seite zuließ.
So konnte der Gefangene nicht fliehen, selbst wenn er es schaffen sollte, die eisernen Hände des Drachen abzuschütteln. Ein dritter Fae beschwor einen Lichtball in seiner Hand und fixierte den Gefangenen, damit er erst recht nicht auf eine solche Idee kam.
Mit aller Kraft löste Luca sich aus seiner Angststarre, als er sah, dass der Mann sich nicht aus Inoues festem Griff befreien konnte. Er wies die Wachen an, das Messer an sich zu nehmen, ehe er langsam auf die verängstigte Frau zuging. Sie presste ihre Sachen an die Brust und die Augen zusammen. Vorsichtig hockte sich Luca vor sie.
»Hey, ist schon gut. Wir wollen dir helfen.« Die Frau wimmerte leise, sonst reagierte sie nicht. Sie hatte immer noch panische Angst. Er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte. Er bat seine Soldaten um eine Flasche Wasser und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Inoue ihn beobachtete, doch daran konnte er gerade nicht denken. Erst musste dieser Frau, dieser Fae geholfen werden.
Vorsichtig hielt er ihr die Flasche Wasser hin. »Hast du Durst?« Sie starrte ihn bloß an. Ihre verängstigten Augen erinnerten ihn an ein verloren gegangenes Kind. Er drehte die Flasche auf und nahm einen Schluck. »Siehst du, damit ist nichts.« Als er ihr erneut die Flasche hinhielt, nahm sie sie vorsichtig an. Mit hastigen Zügen trank sie die Flasche aus. Als eine der Wachen näher trat, um die leere Flasche an sich zu nehmen, zuckte sie heftig zusammen. Luca bedeutete ihm, zurückzutreten.
Die Wache hörte nicht, sie setzte ihren Helm ab. Darunter kamen seine spitzen Ohren zum Vorschein und erstaunt hob die Frau die Augenbrauen. »Du du bist ein Fae!«, murmelte sie. Der Wachmann nickte. »Du musst keine Angst vor uns haben.« Luca nickte ihr ebenfalls aufmunternd zu und ergänzte: »Wir sind gekommen, um dir zu helfen.«
»Dreckiges Spitzohrenpack!« Die Stimme des Täters dröhnte durch die Gasse und die junge Frau zuckte erneut zusammen. »Ihr minderwertigen, dreckigen Bastarde! Ihr seid nichts weiter als Tiere und solltet auch genauso behandelt werden! Ob ich meine Ziege ficke juckt doch auch keinen! Ihr minderbemittelten, ekelhaften Viecher seid doch für mehr nicht zu gebrauchen!«
In diesem Moment klatschte Lucas Handfläche so stark gegen die Wange des Mannes, dass es ihn zum Verstummen brachte. Ein leichter Alkoholgeruch stieg von ihm auf. »Der einzige, der nicht mehr wert ist als ein Tier, das bist du.« Er zog einer Wache das angebotene Taschentuch aus der Hand und säuberte sich demonstrativ die Hände. »Bitte nehmt unserem Gast doch den Dreck aus der Hand und werft ihn in den Kerker.« Zwei der menschlichen Wachen übernahmen den Mann und als er anfing zu meckern, bekam er einen Schlag mit dem Schwertschaft auf den Kopf und sackte in sich zusammen.
Die junge Fae war in der Zeit aufgestanden. »Wer ... wer seid Ihr, mein Herr?« Luca wurde leicht rot, als er die Bewunderung im Blick der Frau erkannte. »Das ist Prinz Nael, siebter Sohn von König Leo von Andhera!« Der Fae-Wachmann sah ihn dankend an, ehe er sich erneut an die junge Frau wandte. »Er ist einer von den Guten.«
Verlegen blickte Luca zu Inoue, in der Hoffnung, dass dieser ihm einen Ausweg aus dieser peinlichen Situation bot. Doch der starrte den Prinzen nur an. In den Augen des Drachen zeichnete sich Respekt und eine Prise Neugier ab. Erst nach einer ganzen Weile konnten sie die dankbare Fae zurück nach Hause schicken.
Zurück im Palast entschuldigte Luca sich förmlich bei Inoue: »Es tut mir wirklich Leid, dass Ihr in eine solche Situation geraten seid, Inoue! Dabei wollte ich Euch doch die schönen Seiten unseres Landes zeigen. Dieser Hass anderen Rassen gegenüber ist nicht richtig!«
Der Drache winkte ab. »Ich kenne dein Land vielleicht besser als du selbst. Ich weiß schon lange von dem rassistischen Verhalten deines Volkes gegenüber den Fae in eurem Land, ebenso wie den Zwergen gegenüber.»« Sachte griff er nach den Händen des Prinzen. »Mir war dein Verhalten heute wichtig, und nichts anderes hätte ich mir von dir gewünscht.«
Er zog Luca an seine Brust. Der bemerkte, dass der Drache nach Leder und eisigen Wäldern duftete, wie ein frisch verschneiter Wald. Tief atmete er ein und genoss diesen angenehmen, beruhigenden Geruch, während er sich an die starke Brust schmiegte. Vielleicht war der heutige Tag doch nicht so eine schlechte Erfahrung gewesen.
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Reincarnation (ONC)
FantasíaDer an Krebs erkrankte Luca hat während seiner Zeit im Krankenhaus nicht viel zu tun. So liest er seine Lieblingsgeschichte "Loving in Andhera" immer und immer wieder. Es ist eine düstere Romantik in einer Fantasywelt voller Drachen und Fae. Das tra...