9 | Datenschutzpanne

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Ich presse meine Lippen zusammen. Da habe ich es wohl mal wieder ordentlich übertrieben. Mit gesenktem Blick zähle ich bis zwanzig und schiele dann zwischen dem leicht überstehenden Pony zu Clausi. Er lächelt.

»Sorry, Clausi. Du kennst mich doch.« Ich gebe mein Bestes, um eine besonders wundervolle Schnute zu ziehen.

»Allerdings.« Er hebt sowohl den Finger als auch leicht seine Stimme. Sein Timbre dabei ... Uh, es gefällt mir. »Aber jetzt höre zu«, er wird wieder ruhiger, »ich habe keine Ahnung, wann du das letzte Mal bei der Anzeigetafel warst. Und ja, darüber reden wir nicht, ich weiß. Es geht ja nicht um dich, sondern um uns ... Bla, bla, bla. Höre erst einmal zu. Als du sie beim letzten Mal gesehen hast, wie sah sie da aus?«

Da muss ich ernsthaft kurz überlegen. Darüber, dass er das allen Ernstes anspricht, aber auch über die Antwort. »So ähnlich wie einem Essenslieferdienst vielleicht? Auf dem großen Monitor hat sich immer mehr beim nächsten Status das nächste Bild mit Farbe gefüllt.«

»O Gott! Das ist aber schon ein paar Tage her«, er reibt sich über sein Gesicht und schüttelt dabei ebenso seinen Kopf. »Bist du schon mal geflogen? Oder mit Fernzügen gefahren?«

»Jap, kann dir jetzt nicht genau sagen, wann, weil ich gerade nicht in die App schauen kann, aber–«

»Ist ja gut«, unterbricht er mich. »Aber das geht in die richtige Richtung. So in etwa sieht es mittlerweile aus. Übersichtlicher. Natürlich wird nichts als Verspätung oder Ausfall deklariert, aber der Status wird unten unter dem eigenen Namen angezeigt auf dem Display.«

»Okay, und das war jetzt wofür so wichtig, mir das mitzuteilen?«

»Das ist jetzt nur die Kurzfassung. Mit dem Armband musst du deinen Status freigeben. Vorher steht nur dein Name dort. Sonst würde ja jeder deinen momentanen Status sehen und nicht jeder würde das unbedingt wollen. Und wenn du fertig bist, kannst du den wieder ausblenden. Doch bei Myst ...«

Bei mir macht es Klick. »Sag mir nicht ...«

»Doch ...«

»Sie hat kein Armband, also ...«

»Ist für jeden ihr Status sichtbar«, spricht er nun das aus, was ich befürchtet habe. Was für eine Datenschutzpanne! Eine gewaltige.

»Sonderbar.« Was für ein Wortwitz! »Und was für Infos stehen da heutzutage?«

»Wo deine Wohnstätte ist, eine Skala mit deinen Schritten, auf welchem Prozessschritt du dich gerade befindest und manchmal auch, was gerade deine eigene Aufgabe ist. Doch letzteres steht dort eher als Rätsel. Und wenn du so weit bist, steht das dort auch.«

»Du meinst, zum Hinübergehen? Steht dann da: Herzlichen Glückwunsch, heute dürfen Sie die Brücke überschreiten?«

»So ein Quatsch.«

»Stimmt, wir duzen uns alle.« Heute gibt es einen Schenkelklopfer nach dem nächsten. Das muss doch ein guter Tag werden. 

Obwohl ich spüre, dass Clausi darüber nicht lachen will, sehe ich seine Mundwinkel zucken. Doch er sagt nichts mehr und anscheinend hat er sonst nichts mehr auf dem Herzen. Er dreht sich auf dem Barhocker weg und springt galant vom Stuhl auf, um Links-Auge Gesellschaft zu leisten.

Wann es wohl bei ihm so weit ist? Ich hoffe, er kann bald über seine Frau sprechen. Vielleicht wird mir noch etwas einfallen, ihn dabei zu unterstützen. Er ist schon so weit gekommen, zumindest glaube ich das.

Ich stütze mich auf den Tresen ab und lausche ein wenig der Musik. Meine Füße tippeln im Takt von Presley – Links-Auge hat eindeutig einen neuen Fetisch – mit.

Doch dann versteinere ich. Wie im Wilden Westen – nicht, dass ich jemals dabei gewesen wäre, aber man kennt es ja aus Filmen – verändert sich die Atmosphäre.

Die Tür geht auf. Das gleiche unheilvolle Gefühl wie gestern nach Feierabend will mich durchdringen. Ich weiß sofort, wer die Bar betreten hat.

Es kann nur sie sein – das Krause-Mystilein. Verwirrt schaut sie mich an. Nein, ich muss mich korrigieren, es ist mehr als das. Ich befürchte, sie verflucht mich gerade. Wird mittlerweile wieder an Hexen geglaubt?

Ohne mir etwas anmerken zu lassen, bereite ich ihren neuen Favoritendrink zu, derweil sie zu mir an den Tresen kommt.

»Wie ich hörte, warst du bei der höchstmodernen Anzeigetafel. Du musst wissen, die versuchen ihr Bestes, dass hier ebenso alles auf dem Laufenden bleibt wie in der Welt der Lebenden«, beginne ich drauf los zu plappern. »Da das in der heutigen Welt eine große Rolle spielt, stellt es zumindest hier im Schwellenreich keine zusätzliche Hürde dar. Ganz nett, oder?«

Ich stelle ihr ihren Cocktail mit einem Extra-Schirmchen hin.

»Äußerst zuvorkommend«, antwortet sie gereizt.

Ich tippe sowohl darauf, dass ihre Antwort nicht auf meinen Drink bezogen ist als auch auf Zorn. Über die Phase Nicht-Wahrhaben-Wollen sind wir wohl schon hinaus. Das ging ja flott bei ihr.

»Du hast auch einige Infos erhalten können. Das mit dem Armband und was damit einhergeht, tut mir natürlich echt leid.« Und das meine ich genauso.

»Wer sind die Oberen?«, presst sie zwischen ihren Zähnen heraus.

»Vielleicht kannst du es mir sagen? Bei mir ist es ja schon etwas länger her ...«

»Ich meine es ernst.«

»Ich auch.«

»Wy, bitte. Gibt es einen Weg zu den Oberen? Wer regelt hier alles?«

Ach, das ist wohl ihre Frage für heute. Na, dann will ich mal nicht so sein.

»Wer das alles hier regelt; wer sie sind, wird uns allen nicht wirklich klar. Vielleicht, um Glaubensdiskussionen aus dem Weg zu gehen, es ist ja eigentlich nur ein Zwischenstopp. Manche bleiben ewig, andere nicht. Aber unabhängig der Religion kommen wir hier an. Doch es ist nur meine Vermutung, warum es deswegen keine konkreten Bezeichnungen gibt.«

»Das ist deine Antwort darauf?«

»Nicht zufrieden?«

»Nicht wirklich.«

»Ja, das ist meine Antwort.« 

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