16 | Piano-Bar-Man

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Myst genau zu betrachten ist wie durch eine Eisschicht schauen zu wollen. Sauschwer. Eine dicke Schicht versperrt mir die Sicht.

Super Gedanke, Wy. 

Es wird sicherlich ewig dauern, bis ich dahinter komme, was sie wirklich will; was ihre Beweggründe für ihr Handeln sind ... Oder aber sie möchte tatsächlich lediglich auf ihrem Weg weiterkommen.

Einerseits kann ich es mir nicht vorstellen, dass sie dabei etwas im Schilde führt und andererseits passt es insgesamt nicht zu ihr. Nicht zu der Myst, die ich – zugegeben erst in der kurzen Zeit – kennengelernt habe.

Wenn es nicht die Arbeit hinter dem Tresen ist, was dann? Oder sehe ich nur zu viel, wo nichts ist? Ich meinte ja: Sauschwer!

Noch immer stehen wir uns gegenüber, noch immer hängt diese Frage unbeantwortet zwischen uns. Fragen über Fragen ... Aber was soll schon geschehen, wenn ich mir einen Song auf der Jukebox aussuche?

»Gut«, ist daher meine knappe Antwort, die sie sichtlich freut. Der orangene Basketball, der von ihr im Korb versenkt wird, erscheint mir mal wieder als Bild ... Hmpf.

»Aber Myst ...« Wie soll ich das jetzt nett sagen?

»Ich werde nichts machen, was ich nicht kenne«, spricht sie aus und nimmt es mir damit ab.

»Danke«, erwidere ich prompt. »Und nicht nur dafür.«

Ich hätte niemals gedacht, dass mich eine solche Geste – dazu von ihr – derart rühren könnte. Sie senkt ihren Kopf leicht nach vorne, wobei sich ihre Lider ebenso ein wenig schließen. Dabei verströmt eine Welle der Erleichterung. Von ihr zu mir, die ebenfalls zu ihr zurückgleitet.

Mit kuriosem Gefühl und wackeligen Beinen mache ich mich auf den Weg nach vorne zur Jukebox. Lasse ich sie wirklich alleine hinter dem Tresen – meinem Tresen – stehen und habe ich mich bedankt?

Noch einmal frage ich: Was macht sie mit mir?

Clausi, Azur und Marine nicken mir ermutigend zu. Ich komme mir vor, als würde ich auf einem ganz bestimmten Gang zu einem ganz bestimmten Stuhl mit einem ganz widerlichen Ziel wandeln, was niemand anstrebt. So ein Ende in Aussicht zu haben, kann nur schrecklich fürchterlich sein. Riesen-Ohr lächelt mir von seinem Platz aus entgegen.

Wy, du bist in deiner Bar. Auf dem Weg zur Jukebox. Das ist nicht gleichzusetzen. Komm mal runter.

Richtig.

»Na«, Links-Auge wendet ihr Gesicht von der Jukebox ab und mir zu, »hast du die Schnauze voll von Elvis?«

»Möchte nur mal sehen«, nuschele ich ihr zu.

»Aber klar doch, ist immerhin deine.«

Es scheint mir, als wäre es für alle vollkommen klar, dass ich nun hier stehe. Indem Links-Auge einen Schritt zur Seite macht, um mir Raum zu geben, lädt sie mich ein, näher heranzugehen. Die Auswahl erschlägt mich. Ja, ich habe vor geraumer Zeit Saturday Night Fever als kaputt deklariert, das war aber auch das einzige, was ich getan habe.

Ich stand hier an dieser Jukebox. Genauso wie jetzt. Der Song fiel mir auf, weil er als Erstes aufgelistet ist. Statt ein Lied zu bestimmen, wandte ich mich jedoch ab und verschwand hinter der Theke, um mich vorgeschobenen Aufgaben zu widmen. Doch nun ... werde ich es tun. Meine Hand schwebt über den einzelnen vergilbten Einträgen. Elvis Presley, Johnny Cash und Buddy Holly – ein Seufzer entkommt mir, gefolgt von einem Grinsen.

Wie soll ich mich entscheiden? Ich ziehe meine Hand zurück, wische sie an meiner Schürze ab, um den Schweiß loszuwerden. Wieso ist das so schwer für mich? Wieder hebe ich meine Hand, lege sie nun jedoch ab, fahre mit dem Finger über die einzelnen Anzeigen. Es fühlt sich gleichsam glatt und rau an. Ich schließe die Augen und atme tief durch. Dabei gleite ich langsam weiter darüber. Vielleicht bekomme ich eine Eingebung.

Als ich die Augen öffne, muss ich schmunzeln. Mein Finger verharrt bei Piano Man von Billy Joel. Ich muss schon zugeben, das ist auf gewisse Weise passend zu diesem Ambiente. Trotz einer kribbelnden Eingebung, den Song daneben auszuwählen, entscheide ich mich für Piano Man.

Bei der ersten Liedzeile stocke ich ... It′s nine o'clock on a saturday ... Doch es scheint keinen zu kümmern, daher widme ich mich erneut der Jukebox und dem Text, der so viel erzählt, was ich vorher nie wahrgenommen habe.

An old man sittin' next to me ... Mein guter Clausi kommt mir dabei in den Sinn. Now John at the bar is a friend of mine. He gets me my drinks for free. And he′s quick with a joke or to light up your smoke. But there′s someplace that he'd rather be ... Ich sehe mich, wie ihnen mit charmanten und gewieften Witz ihre – wohlbemerkt alkoholfreien – Drinks bringe. Aber gibt es einen Ort, an dem ich lieber wäre? Paul ... Who never had time for a wife ... Paul, der stellvertretend für einige stehen kann, aber ich muss direkt an Riesen-Ohr denken. And the waitress is practicing politics ... Im weitesten Sinne, wenn ›in den Wahnsinn treiben‹ dazu gehört ... They′re sharing a drink they call loneliness. But it's better than drinking alone ...

Wenn ich doch jetzt nur einen Drink hätte ... Eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel und läuft über meine Wange nach unten, während ich immer noch auf die Jukebox starre.

Sing us the song you're the piano man. Sing us a song tonight. Well, we′re all in the mood for a melody. And you′ve got us feelin' alright.

Habe ich das? Gebe ich ihnen allen ein gutes Gefühl?

Sing us the song you're the piano man.

»Sing us the song you're the piano-bar-man. Sing us a song tonight«, ertönt auf einmal hinter mir. »Well, we′re all in the mood for a melody. And you′ve got us feelin' alright.«

Gänsehaut-Feeling ... 

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