12 | 3-Punkte-Linie

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Dann ist sie weg und ich starre ihr hinterher. Oder vielmehr auf die grüne Tür, durch die sie verschwunden ist.

Wieso? Womit habe ich das verdient? Was habe ich denn so Schreckliches verbrochen?

Wir sind im Schwellenreich, dem Port der Ruhe, der Grenze zwischen allem ... Vor allem im Port der Ruhe! Doch seit sie mit ihrer Krause-Stirn – faszinierend hin oder her – aufgetaucht ist, wird alles durcheinandergebracht. Sie bringt Unruhe. Wie ist das möglich?

Herausforderungen sind gut; halten uns fit; bringen uns voran. Ich versuche mir irgendwelche Antworten zusammenzureimen ... Treffer versenkt, kommt mir die Sportmetapher wieder in den Sinn. Kein Punkt für mich, sondern für sie.

Steht auf ihrer Anzeige als Aufgabe, dass sie mich zur Weißglut bringen; dass sie mit mir die Plätze tauschen soll? Herzlichen Glückwunsch, Myst. Das schaffst du ganz hervorragend.

Mehr oder weniger grübele ich den weiteren Arbeitstag weiter herum, lasse alles Weitere an mir vorüberziehen. Sobald eine Hand hochschnellt, bereite ich den jeweiligen Cocktail, verabschiede mich oder begrüße jemanden – je nachdem, was gerade gefragt ist, manchmal wähle ich trauriger- und zugleich untypischerweise die inkorrekte Reaktion.

Mann kann ja nicht an jedem Tag glänzen ... Auch ich nicht.

»Letztes Lied. Trinkt alle aus«, bestimme ich, als ich es nicht mehr aushalte und ich zudem niemanden am Tresen sitzen sehe. Das wollen sie sich wahrscheinlich heute auch nicht geben mit mir.

Als hätten sie nur darauf gewartet, schwingen sie alle ihre Hintern hoch und dackeln zur Tür. Bis auf Clausi. Der kommt mit einem leichten Lächeln auf den Lippen zu mir.

»Du bist zu spät«, ich deute auf meinen Körper. »Geschlossen. Den heißen Tresen-Talk gibt es erst morgen wieder«, witzele ich.

»Och ...« Er setzt eine gekünstelt traurige Miene auf. »Nein Wy, ich wollte dir nur einen ruhigen Feierabend wünschen und dass ich hoffe, dass du dich gut entspannen kannst.« Er klopft mir auf die Schulter und begibt sich dann auch zur Tür.

»Danke«, rufe ich ihm hinterher.

Komisch, dass noch nie jemand nach Feierabend herkam, stelle ich mal wieder fest, während ich die Tür verriegele. Aber vielleicht, weil sie abgeschlossen ist. Doch auch der Alarm wurde noch nie ausgelöst ... Merkwürdig. Eins der Dinge, die ich wohl nie herausfinden werde, warum sie so sind, wie sie sind. Die Oberen lassen sich natürlich nicht hier blicken, also werde ich sie nie danach fragen können.

Manches bleibt vermutlich für immer ein Mysterium. Myst. Da haben wir es wieder. Während ich Besen und Lappen schwinge, um die Bar in Schuss zu bringen, verdränge ich jegliche Gedanken an diese ... diese ... Person.

Erst als alles wieder hochglänzend funkelt, fällt mir der Anblick ihrer Augen wieder ein. Dieser eine Moment, in dem es so schien, dass sich je ein Stern in ihren Pupillen widerspiegelt. Meinen Schädel schüttelnd, um das Bild wieder loszuwerden, gehe ich durch zu meinem privaten Bereich und verlasse damit meinen Arbeitsplatz.

Viel bringt es mir nicht, denn die 3-Punkte-Linie lässt mich nicht los, eher steuere ich gerade darauf zu. Ich werde nicht zulassen, dass sie jedes Mal punktet. Ganz sicher nicht. Ich fühle mich so, als würde mich die nicht existente Linie verhöhnen.

Ich schleppe mich ins Bad, dusche eiskalt – was mich an eisblau erinnert – und torkele rüber ins Schlafzimmer. Obwohl die Sonne noch kräftig hoch am Himmel steht, lege ich mich niedergeschlagen ins Bett. Ich brauche Ruhe – vor allem will ich diese friedvolle Ruhe zurückhaben.

Am nächsten Tag wache ich vor dem Düdelü auf. Etwas Gutes. Es ist noch still, keine Geräusche dringen an meine Ohren. Herrlich. Das lädt doch dazu ein, einen kleinen Spaziergang am Morgen zu unternehmen.

Am Steg scheint alles friedlich und harmonisch zu sein. Das Wasser macht nur ganz sachte Bewegungen, liegt ansonsten still und ruhig vor mir dar. Mit einem tiefen Atemzug sauge ich die morgendliche Luft auf. Mein Inneres passt sich dem Gewässer vor mir an.

Gelassener und energiegeladener trete ich den Rückweg an. Ich fühle mich nicht beobachtet und doch sitzt mir das letzte Mal im Nacken. Die Sorge fährt ihre Krallen aus.

Das ist völlig bekloppt. Eben gerade kam erst die allmorgendliche Düdelü-Begrüßung, sie wird nun zu der Anzeigetafel gehen. Sie kann nicht hier sein.

Unbeschadet gelange ich einige Augenblicke später tatsächlich durch die Hintertür in meinen Wohnbereich, tausche mein T-Shirt durch das schwarze Langarmshirt und halte kurz vor meinem Korb. Dir werde ich heute zeigen, dass ichs werde nicht vergeigen, spreche ich mir gut zu.

Daraufhin schreite ich zur Bar vor. Halte dich an deine ausgedachte Taktik, das wird schon. Dann schließe ich die grüne Tür zur Bar auf und warte sowohl auf die ersten Gäste als auch hibbelig auf meine angebliche Angestellte, die erste überhaupt.

Nur wenige Momente später stolziert sie herein, taxiert mich mit ihren eisblauen Augen. Bleib ruhig. Denk an deine Taktik!

»Hallo Myst.«

»Hey Wy«, begrüßt sie mich – für ihre Verhältnisse – ziemlich freundlich. »Womit soll ich beginnen?«

»Mit der Wahrheit?!«

»Hm?«

»Warum willst du hier arbeiten?« Ich blicke sie ebenso forsch an wie sie mich. »Also ja, beginne mit der Wahrheit.«

»Ah.« 

SonderbarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt