19 | Pulsierendes Etwas

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Wieder nehme ich die wunderschöne Natur um mich herum nicht wahr. Das gelangt nicht in meinen Fokus. In einem Tunnelblick habe ich nur eins vor Augen.

Die Jukebox. Wish You Were Here. Das ist der Song, der neben Piano Man aufgelistet ist. Noch im Laufen reiße ich die Tür auf, hechte weiter durch die Bude bis zum Durchgang, der mich zur Bar bringt, und stoppe abrupt.

Das Rasseln meiner Lunge verdeutlicht mir, dass ich wohl öfters mehr Sport und weniger Zuckergetränke zu mir nehmen sollte. Durchatmen. Hinter mir höre ich die Hintertür zuknallen, was mich zurück ins Jetzt katapultiert; mich zum Weiterbewegen anspornt.

Ich betätige den Lichtschalter für die Deckenleuchten mit ihren großen breiten grünen Lampenschirmen. Natürlich abgestimmt auf meine Schürze, die ich sonst trage. Durch ihre Lichtkegel wage ich mich weiter vor, bis ich vor der Jukebox zum Stehen komme.

Meine Augen scannen sofort die Auswahl ab. Wish You Were Here von Pink Floyd ist schnell gefunden. Damit ich mich nicht mehr umentscheide, wähle ich es hektisch aus und hocke mich vor die Jukebox auf den Boden.

Heaven from Hell. Blue skies from pain ... Do you think you can tell? Warum berührt es mich so sehr und gleichzeitig kann ich mit dem Text nicht viel anfangen? Warum sollte ich zwischen einem friedlichen Luftgewirbel und einem pulsierenden Etwas hier unterscheiden können müssen?

Cold comfort for change? Did you exchange a walk on part in the war for a lead role in a cage? Soll das bedeuten, ich würde nicht kämpfen? Aber das tue ich doch! Ich bin hier. Nach wie vor.

We′re just two lost souls ... What have we found? The same old fears. Wish you were here. Mir laufen die Tränen; ich weine. Statt das in meinen Kopf irgendwelche Antworten kommen, entweicht es aus ihm ...

Wish you were here.

Völlig aufgewühlt stehe ich gefühlt Stunden später auf, schalte das Licht aus und gehe auf direktem Wege ins Bett und lasse mich von den kuscheligen Laken, Decken und Kissen ein weiteres Mal und viel zu oft in der letzten Zeit auffangen.

Wish you were here, dringt an mein Ohr. Ganz leise mit einer sanften, melancholischen Stimmfarbe. Die einen Klang hat, den ich meine schon mal gehört zu haben. Von einem Mann würde ich behaupten. Ich lausche ihm zu, während er singt. Langsam drifte ich in den Schlaf ab.

»Düdelü.«

Bla bla, bla. Und warte, ja. Bla bla, bla. Danke. Kopfschüttelnd – und deutlich ausgeruhter, als ich gestern Abend noch vermutet hätte – stehe ich auf. Aber das habe ich auch nötig, immerhin treffe ich gleich auf meine neue ›Angestellte‹ ...

Hoffentlich bleibt die Stimmung wie gestern. Das war definitiv ein riesengroßer Sprung nach vorne. Bevor wir uns verabschiedet haben, ergänze ich gedanklich schnell. Denn da fing sie bereits wieder an.

Ja, wie eine dicke fette Eisschicht.

Die – also Myst – meint nun auch schon an die Tür zu hämmern. Wer soll es sonst sein? Ich wette, sie ist es. O ja, und dann wird sie was von mir zu hören bekommen.

Mit diesem fantastischen Gefühl marschiere ich zur wundervollen grünen Tür, genieße das langsame Aufschließen, weil sie dadurch noch länger warten muss, um die Tür dann ganz lässig aufzuziehen.

»Na endlich. Also Wy wirklich, du kannst einen doch nicht so lange da stehen lassen«, knallt sie mir gleich wütend um die Ohren.

Ich bin verblüfft. Verkehrte Welt? Wo sind meine Worte hin?

»Äh. Nee«, starte ich meinen erbärmlichen Versuch.

»Sag ich doch«, legt sie nach. »Aber egal, lass uns beginnen.

»O-okay.« So war das nicht geplant.

Schwamm drüber, weiter geht es.

Sie schaut mir bei der routinierten Vorbereitung für den anstehenden Tag zu und stellt ab und zu Fragen. Weil noch kein Gast anwesend ist, erzähle ich ihr außerdem etwas über die unterschiedlichen Gäste.

»Abgesehen von der Unterteilung Vorübergehende und uns gibt es Stammgäste wie Clausi und Gelegenheits- oder Einmalgäste, die nur mal einen Zwischenstopp einlegen oder vielleicht nur eine Frage haben oder so, was auch völlig okay ist«, erkläre ich.

»Meistens bemerkst du das schon bei der Begrüßung. Sie reagieren zwar, aber dennoch anders.« Ich muss direkt an die Person vor mir denken ... An sie. Das werde ihr nun nicht auf die Nase binden, vor allem ist das auch noch mal was ganz anderes. »Ich spüre das dann. Die bekommen alle den gleichen Drink von mir. Den Caipirate.« Ich zeige auf die Liste mit den Cocktails, auf der auch die Rezepte stehen.

»Alles klar«, bestätigt sie grinsend mit dem Daumen nach oben zeigend.

Nun leite ich sie darin an, wie sie ihren eigenen Cocktail mixt. Den Hidden Fall. Für den gibt es nämlich noch kein niedergeschriebenes Rezept. Das muss ich noch nachholen.

»Das wars, jetzt kannst du ihn in ein Glas kippen«, meine ich zu ihr, als Clausi gerade kommt. »Und dann bereite bitte schon mal neue Zitronen vor.« Sie nickt mir lächelnd zu und macht sich dran.

»Warum bist du noch hier?«, fragt sie kurz darauf unvermittelt.

Warum bist du so ein Stier?, frage ich nicht. Wird das ihre neue Angewohnheit?! Fragenstellen völlig aus dem Off ... Puh. Das wird ja witzig. Nee, lustig ist das gar nicht. Ein pulsierendes Etwas lodert in mir wieder auf.

»Warum ich noch hier bin; nie weitergezogen bin? Tja, ein Pakt mit dem Teufel ... oder auch nicht. Das verrate ich dir doch nicht«, starte ich drauf los, vielleicht etwas zu pampig. »Ich bin zum Zuhören hier. Und um dir zu helfen, auch beim Weiterkommen meinetwegen, aber ganz sicher nicht, um über mich zu quatschen«, kläre ich nochmals auf.

»Eigentlich meinte ich hinter der Theke«, sie zeigt neben sich auf die Mahagoniplatte, »Warum du noch hier hinter stehst, weil ich doch den Cocktail für Claus machen kann. Aber danke für die Info.«

O Gott, wie peinlich. »Das war trotzdem deine Frage für heute«, bestimme ich megakindisch. Vielleicht ist es auch einfach eine Ablenkung, weil es mir echt abartig unangenehm ist.

Ich flüchte zu Clausi an den Tisch.

Unangenehme Gefühle kann sie einem – oder vielmehr mir – wirklich hervorragend bescheren. Das letzte Mal, dass ich mich derart bescheiden gefühlt habe, ist schon länger her. Bevor ich zum Barkeeper und Besitzer der Sonderbar wurde. Nur das es da hauptsächlich enormer Schiss war.

Und ich deswegen einen Deal eingegangen bin, der mich hier bleiben lässt. 

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