𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 𝟖

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Manchmal bin ich eine Glasscherbe. Kalt, scharf, zerbrochen und wenn man mich berührt, verletzt man sich nur.

Der Saal füllt sich langsam. Mein Blick hängt an der riesigen Uhr an der Wand, deren Pendel hin und her schlägt. Einige Leser, die sich bereit erklärt haben, dass Mittagessen zu kochen, bringen Teller mit Suppe und Besteck an die Tische. Ich danke ihnen mit einem kurzen Nicken und sehe mich abermals nach Leander um. 

Eigentlich wollte er kommen, und mich über Neuigkeiten unterrichten, die er über die zwei Neuen ausfindig gemacht hat. Lancelo und Adrian. Ihre Namen wurden mir schon mitgeteilt.

Aber Leander ist nicht hier, der Platz neben mir grinst mich gähnend leer an. Obwohl wir nicht oft miteinander reden, ist er mir doch eine Stütze, eine nette freundliche Stimme in einem Alltag aus ewigem Ignorieren. Und seit gestern habe ich ihn nicht mehr gesehen, und erst jetzt, wo er unauffindbar ist, merke ich doch wie viel seine Anwesenheit mir weiterhilft. 

Die Menschen im Raum tuscheln leise miteinander. Ich betrachte sie gerne als Menschen, weil ich mich dann mehr als ein Teil von ihnen fühle. Ich betrachte sie in meinen dummen, naiven Träumen als riesige Familie, in der sich jeder um jeden sorgt. Vielleicht könnte ich es anders auch gar nicht ertragen.

Mein Magen knurrt, aber das Essen möchte ich nicht anrühren. Die innere Unruhe macht mir zu schaffen, die Kälte im Bunker und das monotone Murmeln der graugekleideten Menschen. Die Unwissenheit nagt an meinen Knochen und stielt mir die freudigen Gedanken. Es fühlt sich an, als befände ich mich in einer riesigen Kuppel, die sich langsam auf mich heruntersenkt. Und sie sperrt all das künstliche Licht aus, all die netten Worte und lässt mich alleine mit diesen Gedanken, die wütend herumschwirren wie kleine schwarze Fledermäuse.

"Hey!"
Eine ruhige, tiefe und unbekannte Stimme dringt an mein Ohr und erweckt mich aus meiner Lethargie. Ich zucke beinahe zusammen, als er sich neben mich setzt, der blonde Neuling, den wir gestern ausgehorcht haben.
Das erste was mir in den Kopf kommt ist, dass seine Augen aussehen wie zerbrochene Diamanten. Ein stechendes Grün, dass man als Giftgrün sehen könnte, mit einem hinterlistigen Ausdruck in ihnen, oder auch als sanftes Waldgrün, in dem die selbe Sehnsucht steht, wie ich sie aus meinem Herzen kenne. Und all das zusammengemischt, all diese Kombinationen verrührt sind es Diamanten, die gebrochen sind, aber dennoch versuchen in ihrer alten Pracht zu strahlen.

Oder aber es sind einfach nur zwei hübsche Augen, die mich gerade mustern.

"Was gibts?", frage ich und versuche gar nicht erst, den misstrauischen Ton in meiner Frage zu verstecken. Ich hasse es, mit Menschen zu kommunizieren, vor allem, wenn sie neu sind und wir uns nicht kennen. Ich hasse es, Fragen zu beantworten und Interesse vorzugaukeln und gleichzeitig verabscheue ich mich selbst, dass ich nicht ein bisschen aus meinem Schneckenhaus gekrochen komme und den ersten Schritt mache. Aus der Kuppel ausbreche. Den Wald erkunde.

"Oh, du sitzt ganz alleine und ich kenne hier noch niemanden, deshalb dachte ich- Tut mir leid, ich kann auch wieder gehen", antwortet Adrian. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. Jetzt, als ich Zeit habe ihn näher unter die Lupe zu nehmen, erkenne ich die Sommersprossen, welche sich auf seiner Nase tummeln, die hohen Wangenknochen und die feinen Züge seines Gesichts.
"Alles gut", sage ich langsam, unterdrücke das Stottern, dass sich in meiner Zunge verknoten will. Es ist alles gut, besänftige ich mich selbst und mein schnell schlagendes Herz.

"Warum bist du hier?"

Adrian guckt mich einen Moment verdutzt an, ehe er ein leises Lachen von sich gibt. Aus irgendeinem Grund jagt es mir einen Schauer über den Rücken. Keinen kalten, unangenehmen, sondern diese seltene Art von Schauer, die sich anfühlt, als würde ein warmer Sonnenstrahl mich berühren und mich mit seinen ruhigen Frühlingsdüften und Versprechungen einhüllen.
"Ich hab Hunger und möchte etwas Essen", antwortet er belustigt über meine dämliche Frage. 

"Oh", sage ich wenig intelligent. 
"Und ich kenne dich schon von gestern", meint er, während sein Blick mich von der Seite trifft.
Seine Augen wandern über meine Haare bis zu meinem Gesicht. Kann er sie mir ansehen, die Schwärze in meinem Blut und die Traurigkeit, die oftmals über meine Züge tanzt und sie mit ihrem Schleier verdunkelt?

"Wie heißt du?", fragt er schließlich und unterbricht die Stille. Er fragt mich tatsächlich nach meinem Namen, weil er ihn nicht weiß. Er ist der erste seit Leander, der dies tut und irgendwie erwärmt es mein Herz.
"Pearl."
"Wie die Perle?"
Ich nicke und schiebe sicherhalthalber ein leises "Genau," dahinter.
"Warum heißt du so?"
Frag meine Eltern, möchte ich ironisch antworten, aber es wäre unhöflich. Und tut weh.
"Irgendwie passt der Name zu dir-", meint er, ,,-deine Augen sehen aus wie große, dunkle Perlen."
Ich weiß nicht, ob es ein Kompliment sein soll, aber es fühlt sich gut an. Die Art, wie er es sagt gefällt mir, die Weise wie wichtig mir dieser winzige Satz ist, eher weniger. Ich sollte mir besser keine Hoffnungen auf Freundschaften machen.

Plötzlich ruft jemand etwas.
Auf einmal wird die Menge unruhig. Menschen stehen auf, Geschirr klirrt und irgendwo höre ich ein Glas zerspringen. Ich schaue verwirrt zu Adrian, aber dieser scheint keine Ahnung zu haben, was los ist.
Und etwas ist los.
Ich spüre es in der Luft, die dick und schwer über den Tischen hängt, rieche den Geruch der Angst, metallisch und nackt in meiner Nase. Die feinen Härchen auf meinem Nacken stellen sich auf. 
"Was ist los?", murmelt mein Nebensitzer, und am Liebsten würde ich mich dicht neben ihn stellen, um irgendwo einen Halt zu haben, an den ich mich klammern kann und der mir Schutz spendet, aber die Menschen schreien umher, ihre Stimmen vermischen sich mit dem Geräusch von herumtrampelnden Schuhen. Eine merkwürdige Art von Dunkelheit überkommt mich, die Gewissheit, dass irgendwas passiert ist oder passieren wird, Adrenalin rauscht durch meine Adern und bringt meinen Puls zum Rasen.

"Ich weiß nicht", stottere ich wahrheitsgemäß, aber dann verdunkelt sich der Himmel.
Ein Kind weint herzzerreißend laut, und am liebsten würde ich mitweinen.
Ich lüge.
Ich weiß, was los ist.
Mein Herz steht still.

Bomben. 



𝐇𝐞𝐚𝐫𝐭𝐥𝐞𝐬𝐬Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt