𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 𝟗

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Die leise Ahnung schleicht sich langsam an mich heran, drängt sich zwischen herumschreienden Menschen vorbei und legt ihre kalte eisige Hand in tödlicher Versuchung um mein Genick. Keine Luft, kein Sauerstoff, nur das Gefühl nicht atmen zu können. Nur das rasende Pochen meines Herzens in den Ohren, das berauschende Gefühl von Adrenalin, nur eine Millisekunde Zeit, dass alles zu realisieren und dann-

Die Welt explodiert. Mit einem ohrenbetäubenden Schlag erzittern die Wände, fallen Mauern und der Boden wird erschüttert von Schlägen.
Die Welt explodiert vor meinen Augen und ich sehe Menschen, die sich zu Boden werfen, Menschen, deren panischen Schreie nicht gegen das Geräusch der Bomben ankommen, Menschen, die keine Chance haben, zu entkommen.

Ich muss etwas tun, sage ich mir, flüstere es mir immer und immer wieder zu, als eine zweite Bombe das unterirdische Gebäude trifft und die Erschütterung uns von den Füßen reißt. Mein Körper wird gegen eine Wand geschleudert, gleißend heller Schmerz rast durch meine Adern, stößt die Gedanken beiseite und füllt alles in mir aus mit gellendem Leid. Ich schreie auf, als Steine von der Decke fallen, Glas zersplittert und sich die feinen Scherben in meine Haut bohren, eine tiefer als die andere. Mein Schrei ist laut und zügellos und vergeht in der Menschenmasse.

Ich darf hier nicht liegen bleiben, sonst begraben mich die Mauerstücke. Mit dem Rest meiner verbleibenden Willenskraft rappele ich mich mühsam auf, die Hand auf den Brustkorb gepresst. Scharfe Messerspitzen bohren sich in meine Kehle als ich einatme, ein ungewohntes Gefühl von Schwindel erfasst mich.

Keiner weiß, wann sie die nächste Bombe abwerfen, ob sie nur vermuten, dass der Bunker hier unten liegt oder ob sie es wissen und gleich Soldaten hier hereinmarschieren, mit ihrem Gewehren und der Grausamkeit im Gefolge. Stolpernd bewege ich mich vorwärts, auf der Suche nach etwas, dass mir Schutz bieten kann. Mein Hals fühlt sich an wie zugeschnürt, die aufsteigenden Tränen ersticken meine Rufe, da ist so viel Panik in mir, so viel nackte, rasende, heiß brennende Panik. Ich muss laufen, weiter laufen, damit ich aus der Schusslinie bin, damit keine Bombe dieser Welt mich mehr treffen kann, dass kein Soldat des Systems in der Lage ist, eine Waffe auf mich zu richten.

Ich renne. Ich renne, wie ich noch nie gerannt bin, durchquere den Saal, spüre die schnelle Bewegung als Stechen in meiner Seite, das Flattern meines Herzens und das Klopfen an meinem Brustkorb, dass mir stetig und sekündlich verkündet, dass ich verdammt nochmal lebe.

Die Luft trägt den Gestank von Blut zu mir, Asche wirbelt herum. Ich bahne mir einen Weg zwischen entflammten Leichen und herausgebrochenen Wandstücken entlang, die Anstrengung brennt in meiner Kehle wie ein zerstörendes Feuer.

Ich sehe Leander erst, als er noch zwanzig Meter von mir entfernt ist, sehe seinen braunen Haarschopf zwischen den Menschen aufblitzen, schaue in seine Augen, die auf der Suche nach mir sind und klammere mich an diesen Anblick wie eine Ertrinkende. Wenigstens muss ich nicht alleine sterben. Scheiße, ich möchte überhaupt nicht sterben, nicht hier, nicht sinnlos.

Aber es ist mir schon wohl vorher eingefallen, wie eine kleine Nebeninformation in mein Gehirn gesickert, zu dem Zeitpunkt als ich mich aufsetzte und zwischen den heruntergefallenen Steinen hindurchsprintete. Ist mir nebenbei beim Rennen einfach in die Hände gefallen, direkt zwischen Panik und Todesangst, eine kleine glühende Flamme, so schwach und kümmerlich.

Ich möchte leben.

Und das will ich ihm sagen, hätte ich nicht solche Angst, solche Angst vor dem Vergessen, vor dem Tod, vor Blut und der Zerstörung, vor der Einsicht, dass mir scheinbar doch nicht so furchtbar egal ist, was mit mir passiert. Ich will es einem Soldaten sagen, ihm ins Gesicht schreien und meine Wut der Welt zur Schau stellen, mein Feuer in die Welt aussenden und diejenige sein, die diese Bomben abwirft. Meine Gefühle wirbeln herum wie schäumende Wellen in einem aufgewühlten Meer, während dieses Meer nur nach Überleben verlangt.

Und darum renne ich weiter.
Immer und immer weiter und irgendwann komme ich sicher an.

Leander ist gleich bei mir. Ich sehe von der Ferne aus, dass sein linker Arm blutüberströmt ist, wenn man dieses zerdrückte Körperteil noch Arm nennen könnte. Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben, ein Ausdruck, der so schrecklich vertraut wirkt. Die Todesangst lässt seine Augen verhangen wirken, schwarz und riesengroß. Da ist er. Ich muss zu ihm

Die dritte Bombe wird abgeworfen. Sein Schrei geht in der lauten Explosion unter, und in der Sekunde bevor alles verschwindet, sehe ich seinen Körper, von Flammen umgeben, der einfach so zerfetzt als sei Leander nur eine Spielzeugpuppe. Auf einmal weg. Nur noch ausgebranntes Fleisch, nur noch ein Nachhall des Rufes meines einzigen Freundes hier unten ist geblieben.

Und er schleicht sich ganz leise davon, als wäre es geplant gewesen, so plötzlich dass ich es nicht realisieren möchte, einfach weg, einfach zerfetzt von einer Bombe, einfach herausgerissen aus seinem kurzen Leben, einfach eliminiert und einfach und sicher für immer fort.

Nein. Nein.
Ich spüre die Explosion, die in meine Ohren kriecht und sie betäubt, der Schrecken der durch mein Blut kriecht und es anhält und dann ist da noch der Schmerz. Der alleszerstörende, scharlachrote Schmerz, der durch meinen Körper summt, mir das Atmen verbietet, dunkle Punkte vor mein Blickfeld zaubert, die Welt in sich zerfließen lässt, alles in Flammen setzt...

Am liebsten will ich schreien, aber mein Mund ist voll mit Blut. Ich höre absolut nichts. Gar nichts. Die Welt ist getrübt von Stille und Einsamkeit und Tod. Ich schwebe in einer weißen Masse aus geräuschloser Kulisse, bin alleine mit meinen Gefühlen.

Ich liege auf dem Boden, so viel bemerke ich. Langsam beginne ich, nur noch Schreie zu vernehmen. Als hätte jemand kurz auf Stumm geschaltet und den Ton jetzt wieder zurückgebracht. Zurück, ich möchte zurück in die Taubheit. Zurück in die Welt, die ich nicht genoss weil sie mir nicht genug war, die aber zu diesem Zeitpunkt so lieb und friedlich wirkte. Zurück in Kindheitstage, zu meiner Ankunft hier, zu dem Anblick eines ebenso verängstigten Jungen mit braunen Haaren und treuen Augen und ich klammere mich an diese Erinnerungen weil ich diese an seinen Tod nicht ertrage.

Ich kann mich nicht bewegen, eingeklemmt zwischen Menschen und zersplitterten Teilen, die schwer auf meinem Körper lasten. In meiner Brust herrscht ein Ungeheuer mit spitzen Reißzähnen, dass den Schmerz in meine Zellen pflanzt, weit weg, aber es ist so präsent dass ich um mich schlage.
Mir ist eiskalt, als schien der Tod mich anzuhauchen und seine langen weißen Finger nach mir auszustrecken.

Meine Situation wird mir erst jetzt bewusst, ich versuche klar zu denken. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht richtig überlegen, alles in mir ist zerwühlt. Da ist ein Flamme, ganz hinten in der Dunkelheit und ich greife nach ihr wie nach einem Rettungsring, packe ihre Hitze und ihr Feuer und falle in ein Loch aus Dunkelheit.

Hier ist es so ruhig. Hier singen Vögel und hier wachsen Blumen. Ich kann Menschen sehen, Leander als er jung war und so schrecklich unwissend, erlebe die Tage als wir uns kennenlernten. Klein und naiv waren wir, mit unseren elf Jahren, aber ich wünschte ich könnte dem kleinen elfjährigen Jungen erzählen, dass er in einigen Jahren nur noch Asche ist und sein Leben nicht mit dem Unterricht verängstigter Teenager verschwenden soll. Und dann hätte ich ihn umarmt- denn ich denke, dass würden Freunde in so einer Situation machen.

Aber er ist weg. Und die Welt ist entflammt zu einem einzigen großen Feuerball, der die Luft verseucht und die Menschen verbrennt. Die Welt liegt zwischen zwei Mauerteilen und das Leben fließt mit meinem Blut aus meinem Körper.

Ich spüre Schwärze. Und ich wehre mich nicht



𝐇𝐞𝐚𝐫𝐭𝐥𝐞𝐬𝐬Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt