𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 𝟏𝟏

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Hör niemals auf zu hoffen, Pearl.
Wenn du aufhörst, finden sie dich
.


Mein Atem geht schwer und schleppend.

Ich schmecke die Asche der Verbrannten in der Luft, höre ihre letzten Rufe, den letzten hoffnungslosen Schrei, bevor das Leben sie leise verlässt.

"Wir müssen hier weg", höre ich Adrian keuchend sagen, seine Stimme ist seltsam rau.
Die Worte klingeln in meinen Ohren, wir müssen weg, wir müssen weg, wir müssen-

"Lauf", antworte ich tonlos, das Kinn erhoben, die Augen auf den eingestürzten Himmel gerichtet.
Und dann rennen wir um unser Leben.

***

Weißglühende, messerscharfe Klingen fahren durch meine Haut, berühren meine Gliedmaßen und lassen sie in Höllenqualen aufflammen. Mein Bein wird mich umbringen, der Schmerz steckt tief in den Zellen verankert fest und verbeißt seine Reißzähne in meinem Fleisch.
Ich zwinge mich mit jeder Bewegung, nicht stehen zu bleiben, sage mir, dass der nächste Schritt der letzte ist.

Trümmer erschweren uns das Laufen, aus dem Augenwinkel sehe ich eine Bombe, die hochgeht. Obwohl ich gerne weggesehen hätte, bleibt mein Blick an den zerfetzten Leichen hängen.
Einfach weiterrennen.

Ich sehe Adrian's Schatten neben mir, sein Körper bewegt sich im Gleichtakt wie meiner, sein Herz rast und rast, die gehetzte Panik erfüllt jeden Zentimeter seines Gesichts. Der Granatensplitter steckt immer noch in seinem Arm, umringt von eigenem und fremden Blut.
Die Umgebung verschwimmt.

Eine Hand reißt mich zur Seite, als direkt neben mir ein Fremder zu Boden geht. Der Schuss, der eigentlich für mich bestimmt war, trifft einen Mann in die Brust. Wie eine Puppe sackt er in sich zusammen, rote Flüssigkeit spritzt aus einer Austrittswunde an seinem Rücken. Ich spüre seine Augen, die sich tief in mein Gedächtnis einbrennen, er bittet mich in stiller Manier, bei ihm zu bleiben, ihn nicht sterben zu lassen. Unbewusst höre ich seinen Schrei. Gott, lass mich nicht alleine in diesem schwarzen Gewitter aus Kugeln. Meine Augen brennen, doch meine Beine wollen nicht aufhören, sich zu bewegen. Ich kann nur weiter gehen, muss meinen Weg fortsetzten und den Sterbenden zurücklassen, und diese Entscheidung tut mir noch nicht einmal leid. Sein Ruf, leise und bittend, hallt mir nach.

Ich empfinde keine Reue.
Nur noch das Streben nach nacktem Überlegen.

Ein weiterer Kugelhagel zwingt uns zum Anhalten. Ich ringe nach Luft, halte einen Moment inne und suche nach irgendeinem verdammten Gefühl.
Nichts und nichts, nur der weggesperrte, dumpfe Schmerz der Wunde.

"Warte-", sagt mein Begleiter, der sich an eine zerschossene Wand lehnt und unfassbar müde aussieht, "-so schaffen wir es niemals hier raus."
"Das habe ich auch schon gemerkt", antworte ich, starr gerade ausblickend. Ich will das nicht mehr sehen. Ich kann es nicht.

"Ich weiß, wie ich uns hier rausholen kann."
Toben, Beben, Weinen.

"Ungefähr dreihundert Meter von hier liegen die Luftfahrzeuge der Leser. Wir können uns einen der Flieger schnappen und mit den anderen von hier verschwinden. Das war so etwas wie ein Notfallplan, falls das hier passiert."
Der honigsüße Geschmack von Hoffnung legt sich über den Geruch von Brand und Verderben.

"Du bist sicher, dass keine Bombe die Luftfahrzeuge getroffen haben?"
"Nein. Aber es ist unsere einzige Chance, dieser Hölle hier zu entkommen. Und wenn nicht, möchte ich es wenigstens probiert haben."

"Ich kann das nicht."
Die Worte stürmen aus meinem Mund heraus, perlen auf die Erde und hinterlassen dunkelrote Flecken. Es fühlt sich an, als würde ich meine Gefühle in einem einzigen Satz herausspucken, und die Stelle, welche sie verlassen haben, ist nun nur noch ein großes, schwarzes Loch.

"Was?"
"Ich-"
"Hör mir zu. Ich kenne dich nicht, aber du bist verdammt stark, wenn du mit so einer Wunde durch die Gegend rennst und nicht einmal jammerst. Fang nicht damit an, direkt vor dem Ziel aufzugeben, wenn du schon so weit gekommen bist."
Er lehnt sich gegen den Beton, die Hände auf meine Schultern gelegt. Ich bemerke seinen rasenden Puls, aber kann nur dem Geräusch meines klopfenden Herzens lauschen, das pocht und pocht und pocht, weil sein samtweicher Blick den Mut in meinem Blut entfacht.

Die grünen, zerbrochenen Diamanten scheinen mir in diesem Moment ein stilles Versprechen zu geben.
Ich fühle den leichten Druck, den seine Hand ausübt, die Wärme, die sich darunter ausbreitet und auf meinen ganzen Körper übergeht.

"Auf gehts", sagt Adrian leise, die Augen auf mir liegend.
Vielleicht können wir zu zweit diesem Krieg entkommen.

***

Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Ich weiß nicht mehr, ob mein Bein taub ist oder nicht, ob ich noch irgendetwas verdammtes in mir fühle oder ob der zermatschte, durchwühlte Klumpen in meiner Brust wirklich noch mein Herz ist.
Wahrscheinlich hat sich mein Kopf an dieser Stelle einfach ausgeschaltet und die Kontrolle an meine Instinkte weitergeben.

Ich weiß nur noch, dass die Gegend an mir vorbeifliegt, dass ich laufe und gleichzeitig schwebe. Die dreihundert Meter kommen mir vor wie mein ganzes Leben, eine Einöde aus Wegrennen und Ausweichen, Einstecken und einem Kokon, der die Außenwelt von mir abhält.

Ich weine, aber vielleicht lache ich auch.

Adrian greift nach meinem Arm, als ich stolpere und drohe zu fallen. Ein Abgrund tut sich vor mir auf, doch das Adrenalin in meinen Adern spornt mich an, bringt meine müden Beine dazu, sich noch schneller zu bewegen.
Ein Zischen neben meinem Kopf. Eine Kugel.
Nicht mich getroffen. Weiter.

Vor uns taucht eine weitere Person auf. Ich kenne sie, denke ich, doch die fröhliche und sonst so glückliche Thea ist kaum wiederzuerkennen.
Die linke Hälfte ihres Gesichts sieht so hübsch aus wie immer, doch die andere gleicht einem zerwühlten und ausgebranntem Schlachtfeld. Die Augenbraue hat sich sich verzogen und das Augenlid ist fast nicht zu erkennen. Zwischen dem verborgenen Wangenknochen, dessen weißes Schimmern besorgniserregend gut erkennbar ist, sieht es aus als wäre die Haut wie Wachs an ihrem Gesicht heruntergeronnen.

Sie erscheint mir wie ein Engel. Einer, der seine Flügel über mich ausbreitet und den rettenden Weg zum Kampfflugzeug freimacht. Ich finde sie wunderschön.

Es befinden sich noch andere Personen im Innenraum des Gefährtes, doch ich bin viel zu erschöpft, um sie wahrzunehmen. Ich verspüre den Drang, meine Augen zu schließen und diese Welt auszublenden, für einen kurzen Moment meine eigene Dunkelheit der anderen vorzuziehen. Meine Beine brechen unter mir weg, ich bemerke Hände, die mich auffangen.

Ich glaube, ich möchte für immer so gehalten werden.




𝐇𝐞𝐚𝐫𝐭𝐥𝐞𝐬𝐬Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt