5 - Der zweite Kuss

2 1 0
                                    

Wir waren schon fast zu Hause, als Frank plötzlich überrascht aufschreckte. „Ach, das habe ich total vergessen." Ich schaute ihn verwirrt an. Was meinte er damit? Verschwörerisch lächelnd sah er mich an. „Wir beide müssen noch eben etwas erledigen, bevor wir uns zu Hause sehen lassen können." Freundlich zwinkerte er mir zu und bog an der nächsten Ampel in Richtung Einkaufszentrum ab. Was wollte Frank dort nur?

Diese Frage quälte mich, bis Franks Stimme mich von meinen Gedanken befreite. „So, da sind wir ja schon." Ich sah aus dem Fenster und erblickte eine Menschenmenge, die sich in das Einkaufszentrum stürzte. Warum hatten es die Menschen nur immer so eilig? „Ja, ich weiß, es ist viel los im Moment. Aber keine Angst, es wird dir trotzdem gefallen." Und wieder zwinkerte Frank mir verschwörerisch zu. Was hatte er nur vor?

Als wir das riesige Einkaufszentrum betraten, wurden wir sofort von den Gerüchen köstlicher Speisen überwältigt. Mein Magen machte sich mit voller Kraft bemerkbar und erinnerte mich daran, dass ich noch nichts zum Mittagessen bekommen hatte. Lachend zog mich Frank zu einem der Imbissstände und bestellte für uns beide Hotdogs. Nachdem wir sie verschlungen hatten, rückte Frank endlich mit dem eigentlichen Grund unseres Aufenthalts heraus.

„Ich denke, da du jetzt eine neue Schule besuchst, brauchst du auch neue Schulsachen", sagte er. Ich schaute ihn verwundert an. Warum wollte er jetzt auch noch Geld für neue Schulsachen für mich ausgeben? Er hatte doch schon so viel für mich getan. „Frank, ich finde es nett, dass du fragst, aber..."

„Mach dir keine Sorgen, ich habe schon das nötige Kleingeld, um dich mit dem Nötigsten auszustatten. Außerdem glaube ich, deine Mutter würde sich noch mehr freuen als du", unterbrach mich Frank. Bei diesen Worten mussten wir beide auflachen, denn seitdem meine Mutter von meiner neuen Schule erfahren hatte, war sie so glücklich wie nie zuvor. Jeden, den sie auf der Straße traf, erzählte sie stolz von dieser freudigen Neuigkeit. Ja, sie würde sich sicherlich sehr darüber freuen. Lächelnd nickte ich. „Gut, dann lass uns gleich mal da drüben rein gehen. Ich glaube, ich habe etwas gesehen, was dir gefallen könnte."

Nach gefühlten 30 Stunden Shopping fuhren wir endlich mit genügend Einkaufstüten auf dem Rücksitz nach Hause. „Hoffentlich sind wir bald da, ich muss dringend meine Füße hochlegen", seufzte ich. Frank lachte herzhaft bei meinen Worten. „Das kannst du gleich, wir sind nämlich gleich da."

Ein paar Minuten später fuhren wir in unseren Hinterhof. Plötzlich fiel mein Blick auf den Müllhaufen, der einst Fabians und mein Versteck dargestellt hatte. Dieser Anblick brachte mich sofort zurück zu dem Tag, an dem ich Fabian verloren hatte. Wieso nur, wieso hatte ich ihn geküsst?

Erst Franks Worte rissen mich aus meinen Gedanken, und ich schaute ihn wohl etwas verwirrt an, woraufhin er mich erneut fragte: „Möchtest du schon rein gehen? Ich kann die paar Tüten auch allein rauf tragen."

Ich schüttelte abwesend den Kopf, stieg aus und nahm Frank ein paar Tüten ab. Zusammen gingen wir hinauf und wurden schon sehnsüchtig von meiner Mutter erwartet.

„Wo wart ihr denn so lange? Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob sie ihn aufgenommen haben", sagte sie.

„Nun, wir mussten ihm noch ein paar neue Schulsachen für seine neue Schule kaufen", erklärte Frank mit einem Augenzwinkern, woraufhin meine Mutter uns fest umarmte. „Hach, Frank, ich bin so glücklich, dass er dort zur Schule gehen darf. Danke, dass du dich so gut um uns kümmerst."

Frank nahm uns daraufhin ebenfalls in den Arm. „Rieche ich hier Essen?" Bei diesen Worten schauten Frank und meine Mutter mich lachend an.

Wir feierten meinen Schulwechsel mit einer extra großen Pizza und vielen Nachos, während wir meinen Lieblingsfilm „Serenity" anschauten. Doch dieses Mal konnte ich es kaum genießen, wie sich die Crew der Serenity der Allianz entgegenstellte, denn mir gingen tausend Fragen durch den Kopf. Wie würden die anderen Schüler auf mich reagieren? Hatten sie von meiner Geschichte gehört? Würde dieser seltsame Junge mit seinem langen schwarzen Haaren in meiner Klasse sein? All diese Fragen und noch viele mehr plagten mich die ganze Nacht hindurch und ließen mir gerade einmal zwei Stunden Schlaf.

Am Morgen meines ersten Schultages hatte sich meine Mutter so richtig ins Zeug gelegt und Frank und mir ein besonders leckeres englisches Frühstück zubereitet. Nach dieser Riesenportion musste ich mich fast die Treppe hinaufrollen, um mich für den Schultag fertig zu machen. Frisch geduscht stand ich nun vor meinem Kleiderschrank und zum ersten Mal in meinem Leben bemerkte ich, dass ich nichts anzuziehen hatte. Nicht, dass ich keine Kleider hatte, aber sie gefielen mir nicht mehr sonderlich. Nur neue Sachen konnten wir uns nicht leisten, und welches Geschäft macht hier schon um 6 Uhr morgens auf? Nach kurzem Überlegen schnappte ich mir eine alte, mit Löchern übersäte Hose, mein bestes weißes Hemd, eine schwarze Weste, eine Krawatte und einen Hut. Ich machte noch ein paar Metallketten an meiner Hose fest und zog alles an.

Neugierig betrachtete ich mein neues Outfit vor dem großen Spiegel im Schrank und ich musste sagen, dass es eher meinem Geschmack entsprach. Zufrieden schnappte ich meinen noch etwas leeren Rucksack und eilte nach unten. Was meine Mutter wohl zu diesem neuen Outfit sagen würde? Würde sie mir den Kopf abreißen, weil ich in solchen Klamotten in die neue Schule wollte?

Vorsichtig lugte ich um die Ecke und sah, wie meine Mutter gerade den Tisch aufräumte. Während ich noch darüber nachdachte, wieder nach oben zu gehen und mir andere Klamotten anzuziehen, spürte ich plötzlich einen leichten Druck auf meinem Rücken, und schon fiel ich meiner Mutter halb in die Arme. „Huch, was macht ihr beiden denn schon unten?", fragte sie überrascht, als sie in meine Richtung schaute. Ich drehte mich um und sah Frank breit grinsend in die Küche folgen. „Ich glaube, hier wollte uns gerade jemand sein neues Outfit vorstellen", bemerkte er. Verlegen lächelnd betrachtete ich die nun volle Spüle, während Frank zu meiner Mutter ging und sie küsste. „Nun, ich muss schon sagen, dein neues Outfit steht dir sehr, oder nicht, Frank?", sagte sie. „Ja, das tut es wirklich", stimmte Frank zu. Ich schaute beide nun etwas tapferer an und musste dabei unweigerlich grinsen. Ja, das würde bestimmt ein verdammt guter Tag werden.

Hätte ich gewusst, wie er enden würde, hätte ich wohl nicht so voreilig entschieden. Frank fuhr mich zur neuen Schule und begleitete mich durch die nun mit einigen Schülern gefüllten Flure. Da Frank allein in das Sekretariat ging, konnte ich mir in Ruhe die vergoldete Tafel neben der alten Holztür genauer anschauen. Auf ihr stand in Schnörkelschrift geschrieben: „Grund- und Realschule auf Mauern". Mehrere Wappen waren um den Text herum eingraviert, jedoch erkannte ich nur das Wappen unseres Bundeslandes. Ich ließ meinen Finger über die Wappen gleiten, als ich plötzlich ein Kichern hinter mir hörte. Ich drehte mich um und sah einige Mädchen in meinem Alter, die mich neugierig beobachteten und dabei immer wieder miteinander tuschelten. Als sie jedoch bemerkten, dass ich sie nun genauso neugierig beobachtete wie sie mich, huschten sie gackernd um die nächste Ecke.

Ich hatte jedoch keine Zeit, über die Mädchen nachzudenken, denn in diesem Moment kam Frank mit einem gleichaltrigen Mann aus dem Sekretariat. „Ah, das ist also unser Neuzugang. Guten Tag, mein Name ist Herr Delja." Herr Delja streckte mir freundlich lächelnd die Hand entgegen, und während ich sie schüttelte, verabschiedete sich Frank schon. „Ich muss nun leider los, aber keine Sorge, Herr Delja kümmert sich um dich. Er ist ab heute dein Vertrauenslehrer und wird dir jederzeit zuhören, wenn du reden möchtest oder Fragen hast. Ich hole dich dann heute Abend ab." „Äh, ja, bis heute Abend, Frank", murmelte ich etwas verwirrt und schaute meinen neuen Vertrauenslehrer an. Sein knallbuntes Hemd war in die viel zu enge Hose gestopft und versuchte wohl seinen Bierbauch zu verdecken. „Ich hoffe, du magst Mathe, denn deine neue Klasse wartet schon im Matheraum auf dich", sagte er, und das ungute Gefühl von letzter Nacht kam wieder in mir hoch. Am liebsten wäre ich nach Hause gerannt, doch Herr Delja nahm meine Hand und führte mich durch die kühlen Gänge.

Plötzlich öffnete er eine der großen Holztüren und schubste mich sanft in den hell leuchtenden Raum. „Viktoria, ich bringe dir deinen neuen Schüler." „Ah, das ist also der junge Mann. Nun, ich bin Frau Rossner. Willkommen in der Schule auf Mauern", sagte sie lachend und gab mir die Hand. Während ich sie schüttelte, bemerkte ich die neugierigen Blicke der anderen Schüler. Warum konnte ich keinen Tarnumhang besitzen?

Liebeskummer im HinterhofWo Geschichten leben. Entdecke jetzt