Ella saß an der Theke, in dem Café, in dem sie Liam gestern zum ersten Mal gesehen hatte. Die hellen grauen Augen standen im Kontrast zu den noch dunkler gewordenen Augenringen. Sie zog sich die Ärmel ihres dunkelgrünen gerippten Pullovers über die Hände, bevor sie nach ihrer Tasse griff. Dampf wärmte ihr die Nase, bevor sie einen Schluck nahm. Sie war unsicher. Abgesehen von ihr saßen zwei Trucker mit ihr an dem Tresen. In einer der Ecken auf den Bänken am Fenster saß eine Familie. Die zwei Kinder waren überdreht und sprangen auf ihrer ständig gähnenden Mutter herum. Ellas Augen wanderten wieder zum im Dunklen liegenden Parkplatz. Die Lichtkegel der Scheinwerfer fassten Ella und ließen ihre Pupillen schrumpfen. Diesmal muss er es einfach sein. Ellas Augen waren schwer. „Guten Morgen", eine raue Stimme ließ Ella hochschrecken. Ihre Augen waren für ein paar Sekunden zugefallen. Überrascht sah sie zu Liam hoch. Auch seine Augenringe waren über Nacht dunkler geworden. Unruhig strich er sich mit der rechten Hand über seine Bartstoppeln. Ella lächelte ihn leicht an. „Guten Morgen, Liam." Die beiden sahen sich für einen Moment in die Augen. Ella bemerkte den leichten blau Ton seiner Augen.
Alishas Räuspern riss sie aus dem kurzen Moment. Ella wurde rot und blickte Alisha in die braunen Augen. Lachfalten zogen Furchen durch die braune Haut. Mit leichtem Schmunzeln drücke sie Liam eine braune Tüte in die Hand. „Na dann, auf ihr zwei. Wird ein aufregender Tag heute." Mit einem Zwinkern verabschiedete sie sich von den beiden. Ella war sich unsicher, was sie tun sollte und rutschte unruhig auf dem abgenutzten Hocker hin und her.
Nachdem Liam geschaut hatte, ob der Inhalt der Tüte, das war, was er erwartete, nickte er mit dem Kopf in Richtung des mittlerweile in der morgendlichen Dämmerung liegenden Parkplatzes. „Lass uns gehen, Al hat recht, wird sicher ein langer Tag. Wir sollten keine Zeit verlieren." Ella nickte und zog sich beim Aufstehen wieder die Ärmel ihres Pullovers über die Hände.
Zeitgleich griffen sie und Liam nach dem Rucksack, der zu ihren Füßen an dem Tresen lag. Ihre Fingerspitzen berührten sich. Es kribbelte auf ihrer Haut. Erschrocken zuckte Ella zurück. Schnell zog sie wieder die Ärmel ihres Pullovers über ihre Hände. Liam sah auf ihre Hände, blickte ihr dann in die Augen, doch sagte nichts, sondern nickte einfach in Richtung des Parkplatzes. Ella war ihm dankbar, ihre Stimme wäre wohl nur ein Piepsen gewesen. Wo es ging, vermied sie es, Menschen zu berühren, die sie nicht kannte. Die einzige, die sie ohne nachzudenken berühren konnte, war Anastasia. Sie war auch die einzige, die ich kenne. Und Dinge, die alltäglich von mehreren Menschen benutzt wurden.
Gedankenverloren trottete Ella Liam auf den Parkplatz hinterher. Sie erinnere sich an den Tag, an dem sie gelernt hatte, dass sie nicht war wie andere Mädchen nur zu gut.
Anastasia hatte sie gebeten, den Sprit zu zahlen und ihnen etwas zu trinken zu holen. Schon als sie die Wasserflaschen aus dem Kühlregal genommen hatte, sah sie schwache Bilder vor ihren Augen. Menschen, die lachend, streitend, telefonierend vor eben diesem Kühlregal standen und ebenfalls eine Wasserflasche in den Händen hielten. Schnell wechselten die Bilder zu anderen Szenen, Menschen, die die Falschen in Kisten packten, die überwachten wie sie abgefüllt wurden, sie wegschmissen. Doch Ella erschrak nicht, sie wurde neugierig. Mit gerunzelter Stirn ging sie zur Kasse und wollte bezahlen. Hinter dem Pult stand eine junge Frau. Den dichten dunklen Pony stets zurück in ihr Gesicht schiebend. Ella begrüßte sie freundlich, doch von dem Mädchen kam nichts zurück. Sie kassierte Ella ab und mit dünner Stimme nannte sie den zu zahlenden Betrag. Gespannt griff sie nach ihrer Geldbörse. Doch sie sah nichts. Hatte nur sich selbst vor Augen. Auch als sie das Geld herauszog, sah sie schwache Bilder verschiedener Hände, die Scheine weiter reichten. Das Mädchen hinter der Kasse griff schnell zu und da passierte es. Ihre Haut berührte Ellas und da sah sie die Bilder. Bilder eines großen, dickbäuchigen Mannes. Dieser Mann tat dem Mädchen schreckliche Dinge an. Unaussprechliche Dinge. Im Laufe der Taten des Mannes veränderte er sich. Er wurde älter. Sie konnte nicht nur sehen, was er tat. Sie spürte es mit allen ihren Sinnen. Schwarze Punkte begannen ihr die Sicht zu versperren, dankbar über die sich anbahnenden Dunkelheit ließ sie sich fallen. Trotz der Dunkelheit konnte sie Schreie hören. Fühlte den Schmerz, und die Hitze von Tränen und Schweiß auf ihrer Haut. Schmeckte das Blut in ihrem Mund. Die Bilder des Mannes, der sich in jeder denkbaren Form an dem Mädchen verging, brannten sich in ihren Kopf. Die Erinnerungen des Mädchens wurden zu ihren. Erst im Laufe der Zeit und durch die Erzählungen Anas wurde Ella bewusst, dass es nicht die Schreie des Mädchens hinter dem Tresen gewesen waren, die sie gehört hatte. Es waren ihre gewesen.
Ella war so in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass sie mittlerweile im Auto saßen und schon auf dem Weg waren. Sie räusperte sich. „Wie lange fahren wir denn?" Liam sah sie von der Seite an. „Circa eine Dreiviertelstunde." Schweigend fuhren sie ein paar Minuten in die Morgendämmerung hinein. Nervös kaute Ella auf ihrer mittlerweile aufgesprungenen Unterlippe herum. „Mister Fort ist sehr nett." Diesmal sah er Ella nicht nur von der Seite an, für einen kleinen Augenblick sah er ihr richtig in die Augen. Mit fragendem Blick sah sie ihn an. „Du bist so abwesend und zappelig", erklärte er sich. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit an ihrem Ärmel herum knibbelte und im Sitz hin und her rutschte. „Entschuldige, ich bin etwas nervös. Daniel zu finden bedeutet sehr viel für mich und ich hoffe wirklich, dass es diesmal der richtige Daniel ist. Außerdem sind es immer die, die nicht nett sind, die sagen, dass sie es sind." Er sah ihr wieder direkt in die Augen. Etwas lag in seinem Blick, das sie nicht ganz deuten konnte, dann schüttelte er den Kopf. Doch Ella konnte sehen, dass er lächelte. Ella schmunzelte und lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe. „Du wirst mich aber nicht in den Keller sperren, oder?" Ella sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Liam sah sie an. „Ich steh' mehr auf Brunnen." Ella begann zu lachen. „Gib mir 'ne teure Lotion zum Einschmieren und dann hatte ich es echt schon schlechter im Leben, Hannibal."
„Es war nicht Hannibal, nicht sein Stil. James Gumb hat den fürsorglichen Gastgeber gegeben." Ella sah ihn erstaunt an. „Was? Ich steh' auf Filme." Ella nickte anerkennend. „Nicht schlecht Hannibal. Ich wäre vermutlich eine bessere Jacke, statt eines Hauptgangs. Ich hab' super Haut." Liam lachte. „Du bist echt schräg, Ella." Ein Schnauben entfuhr ihr. „Du hast ja keine Ahnung."
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Majesty - Ruf des Schicksals
FantasyIn einer Welt, in der Wahrheit und Täuschung untrennbar miteinander verwoben sind, sucht Ella verzweifelt nach Antworten. Seit sie denken kann, fühlt sie sich fremd in ihrer eigenen Haut, ohne zu wissen, warum. Als ihre engste Vertraute Anastasia sp...