Zwischenspiel: Das Wohl der Familie

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Das heftige Zuschlagen einer Tür veranlasste Cassian dazu seine Schritte zu verlangsamen. Er trat gerade durch die Biegung des steinernen Flures, als er ein helles Klirren vernahm.
Mit leicht erhobener Augenbraue sah er seinem Bruder bei dessen Tun zu.
Als Lucian an der nächsten dunklen Kommode vorbeikam, holte er erneut kraftvoll mit dem linken Arm aus. Die schmale, graue Vase fiel seiner Wut zum Opfer. Klirrend verteilten sich die Scherben auf dem Steinboden.

„Darf man fragen, was die alten Vasen dir getan haben?"
Einen Moment verharrte Lucian, die dritte Vase schon fest im Blick. Als er Cassian eine Antwort gab, bebte seine Stimme vor unterdrücktem Ärger, „Diese Frage solltest du unserer geschätzten Mutter und ihre, ach so weisen Berater stellen!"
Unter noch lauterem Klirren ging auch dieses Gefäß nach seinen Worten zu Bruch.
„Ich glaube, sie hat ihren Verstand verloren. Vielleicht bringst du ihn ihr zurück."
Damit ließ Lucian ihn einfach stehen und verschwand mit harschen Schritten.
Die feinen Scherben knirschten leise unter Cassians Sohlen, als auch er leicht kopfschüttelnd seinen Weg fortsetzte.

🩶

Erst nachdem von der anderen Seite ein energisches, „Herein!", zu vernehmen war, öffnete Cassian die helle Holztüre.
In dem großen Kamin, an der Wand hinter Gloria Vandeleur, brannte ein flackerndes Feuer.
Beim Eintreten konnte Cassian die Wut in den Augen seiner Mutter aufblitzen sehen. Dann fuhr sie sich einmal mit der Hand über das Gesicht.
„Ach, du bist es nur. War dein Bruder sehr zornig?"
Der junge Werwolf zuckte mit den Schultern. Er hatte ihn immerhin schon ganz andere Dinge zerschlagen sehen.
„Wir haben jetzt ein paar Vasen weniger", bemerkte er mit einem Schulterzucken.
Kurz flackerte ein schmales Lächeln über Glorias Gesichtszüge. Mit deutlich ruhigerer Stimme sagte sie, „Mir waren diese Familienerbstücke schon immer ein Dorn im Auge." Mit einer Note von abfälligem Humor ergänzte die Ältere, „Allesamt hässlich anzusehen."

Schnell jedoch verschwand das Lächeln wieder von ihrem Antlitz. Mit deutlich ernsterer Miene fuhr sie an ihren Sohn gewandt fort, „Wir werden ein Bündnis mit den Hexen eingehen. Nach dem nächsten Vollmond wird es einer jungen Frau erlaubt sein, unser Land zu betreten."
Sie machte eine kurze Pause und sah Cassian aufmerksam an.
Noch wollte der junge Mann nicht glauben, dass es nur diese Neuigkeit sein sollte, die seinen Bruder so rasend gemacht hatte.
Nein, es musste noch an etwas Anderem liegen.

„Die anderen Rudel haben sich mit überraschend großer Mehrheit für eine Verbindung zwischen deinem Bruder und einer Tochter der mächtigen Familie Blackheart ausgesprochen."
Unausgesprochen blieben ganz andere Worte. Die Wut, die Verbitterung, die Narben.
Kurz starrte Cassian seine Gegenüber einfach nur mit leicht geöffnetem Mund an. Sein Kopf weigerte sich, das soeben Vernommene zu verarbeiten.
„Aber...", leicht kopfschüttelnd brach er ab.
Der Werwolf musste erst noch nach den richtigen Worten suchen.
Mit einem festen Räuspern versuchte Cassian es erneut, „Warum zwingen die Rudel meinen Bruder zu dieser Hochzeit? Und warum hast du nicht mich dafür vorgeschlagen?!"

Der aufopfernde Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Auch für Gloria nicht.
Ihr Sohn würde sein eigenes Glück immer den Wünschen der anderen Rudelmitglieder unterordnen.
Das war nun mal seine Pflicht als Beta. 
Sie ergriff eine seiner Hände und drückte diese fest.
Er hatte eine Erklärung verdient.
„Die anderen Rudel wollen keinen offenen Krieg mehr. Sie sind des Blutvergießens müde. Wir haben bereits vor Monaten angefangen, über Frieden mit den Hexen zu verhandeln", sprach sie mit matter Stimme.

Während Cassian seiner Mutter lauschte, regte sich in ihm immer stärker der Wunsch zu widersprechen. Ein kämpferisches Funkeln erschien in seinen blauen Augen. Bei dem Wort Frieden konnte er nicht länger still bleiben. Vielleicht war es im Moment noch ein ausgeglichener Krieg, doch er wusste einfach, dass es nur einen möglichen Ausgang gegeben hätte.
Sein Wolf ließ ein bestätigendes, bedrohliches Grollen durch seinen Geist schallen.

The Tale of Moonlight and Wild Roses Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt