WAS DIE SCHATTEN VERSCHLINGEN
II. Mitternacht und ihre TotenDie erste Nacht
❅ ❅ ❅
BEI SONNENUNTERGANG RITT FÜRST ROGDAI VON MAVROPOL, sein feines Pferd antreibend, in aller ungeduldigen Eile. Ein Farbklecks mit seinen erlesenen Pelzen und ein seltsamer Lichtstrahl mit seiner goldverzierten Säbelscheide in der unwirtlichen Landschaft.
Sonst gab es hier nichts zu sehen als karminrot glühenden Schnee, Felsen, scharf wie Wolfszähne, und ein Meer von schwarzbenadelten Bäumen. Alles, woran er und sein Gefolge sich festhalten konnten, war der einsame, in die Berge gehauene Pfad – kaum breit genug für ihre Tiere, bedeckt mit tückischem Neuschnee und umarmt von einem Abgrund, der so unendlich war wie die Tiefen der Unterwelt.
Es war ein Ort, an dem Legenden geboren wurden. Von Banditen, die Kaufleute töteten. Von bösartigen Kreaturen, die arme Wanderer verwirrten. Von unglücklichen Jünglingen, die in den Klauen der Wildnis starben. Von allzu vielen Menschen, die ihre letzte Ruhestätte im Flussbett fanden, in den Wäldern abgeschlachtet oder in im Schlund einer Schlucht zerschmettert.
„Herr, seid Ihr sicher, dass wir weitergehen sollten?", fragte einer seiner Männer schüchtern. „Sollten wir nicht für die Nacht rasten?"
Er, Dmitri, und einer seiner Kameraden hatten schon auf dem gesamten Weg hierher von ihren schönen Svetlanas und Olgas geträumt, die zu Hause auf sie warteten, und waren nun begierig darauf, die Kälte zu vertreiben, indem sie ihre Liebsten im Schlaf trafen.
„Nein, ich will heute in Schwarzhain ankommen", antwortete der Prinz.
Was das Herz eines anderen Mannes zum Beben gebracht hätte, setzte das des jungen Prinzen in Flammen. Die Gefahr seiner Reise war nur eine der Herausforderungen, die er unbedingt meistern wollte, und was könnte eine bessere Motivation sein als die junge Braut, die ihn am Ende der Reise erwartete?
Es hieß, die Prinzessin sei ebenso schön wie wild. Rogdai lächelte. Nichts ist besser als ein kleines Biest zu zähmen.
„Die Nacht wird bald hereinbrechen. Es wird gefährlich, im Dunkeln zu reiten", erwiderte Dmitri, nicht recht mutig genug, um es wie den Einwand klingen zu lassen, der es war. „Und es ist Sonnenwende. Heute Nacht reiten die Toten schnell."
„Dann lasst uns schneller sein als die Nacht und ihre Toten."
Der Prinz spornte seine Rappstute Polnotsch an. Mitternacht.
Heute mochte Mittwinter sein – die Zeit, in der Todesgötter und Seelen die Erde durchstreiften –, aber was soll's? Würde ihn das nicht noch mutiger erscheinen lassen? Rogdai war schon immer jemand gewesen, der nach dem Gelingen des Unwahrscheinlichen, wenn nicht Unmöglichen, strebte.
DU LIEST GERADE
Was die Schatten verschlingen
Fantasy» Wenn die Glocken klingen, kommt der Untergang « ❅ ❅ ❅ Saskia Vrana kennt die heiligen Regeln, denen man folgen muss, wenn man die Kreaturen, die in den Raunächte...