• 4: Punk-Mädchen •

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H E A T H E R

Mit ihr an meiner Schule hatte ich so gar nicht gerechnet. Dass ich sie überhaupt wiedersehen würde, habe ich nicht erwartet. Doch sie stand vor mir in der Schwimmhalle der High School, wo ich zweimal pro Woche mit dem Team trainierte und sah kaum anders aus, als vor ein paar Tagen.

Hohe, schwarze Stiefel trug sie, eine Netzstrumpfhose unter einer Shorts und ein T-Shirt, das ihr eigentlich viel zu groß war, steckte zur Hälfte lässig unter dem Gürtel ihrer Hose.

Sie war das ganze Gegenteil von mir, das war mir gleich klar, aber irgendwie faszinierte mich ihr, für mich außergewöhnlicher Stil. Er passte vermutlich genauso gut zu ihr wie meiner zu mir und sie sah auf eine ganz andere Art und Weise hübsch darin aus. Denn dass sie hübsch war, war absolut keine Frage.

Es war ein verrückter Zufall, dass sie an meine Schule gewechselt ist, oder es war eher der Zufall, dass wir schon vorher aufeinander getroffen sind. Egal, was es war. Es war irgendwie… schön, sie wiederzutreffen.

Ihre Worte sind mir seit dem Abend nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Tue nicht, was du nicht unbedingt tun willst. Und wenn ich genau darüber nachdachte, tat ich es trotzdem viel zu oft.

Estelle klatschte wieder in die Hände, als ich erneut aus dem Schwimmbecken kletterte. Sie hatte sich auf einen der Plätze der Tribüne gesetzt und schaute mir beim Training zu.

Eigentlich war das alles eine recht seltsame Situation. Nur sie war bei mir in der Halle und nahm eine Zuschauerrolle ein, dabei kannten wir uns noch gar nicht. Sie hatte darauf bestanden, wenn man es so nennen konnte, mir beim Training zuzusehen und an sich hatte ich kein Problem damit.

   »Mit dir im Team hätte ich wirklich nie Sorge, dass wir mal nicht gut abschneiden. Wenn man dir so zusieht, bekommt man Lust, dem Team beizutreten«, behauptete sie und hatte dabei lächelnd den Kopf zur Seite gelegt.

Ich strich mir das Wasser aus den Augen und lief zu ihr. »Ja, klar«, stieß ich ungläubig aus. Ich war mir sicher, außer mal in irgendwelchen Schwimm- und Freibädern oder vielleicht in Seen hatte sie keine Erfahrungen mit dem Schwimmen gesammelt. Nicht mit der professionellen Schwimmart, die ich seit ich fast sechs Jahre alt war, ausführte.

   »Wirklich!«, wollte sie sich verteidigen. »Ich werde mich einschreiben, vorausgesetzt ihr habt noch was frei. Ein Hobby mehr kann doch nicht schaden.« Sie klang viel zu selbstsicher und glaubwürdig, um ihr das nicht abkaufen zu können. Ich ließ einen Platz zwischen uns frei und setzte mich dort zu ihr.

   »Du bist auf jeden Fall willkommen. Ich kann das heute gerne mit meiner Trainerin absprechen«, meinte ich. Ich stellte ihre Entscheidung nicht weiterhin in Frage, denn ich konnte ihre Absicht dabei nicht erahnen. Ihr breites Lächeln verriet mir aber, dass sie es tatsächlich ernst meinte.

   »Wie kommt es überhaupt, dass du so plötzlich hierher gewechselt bist mitten im Schuljahr?« Da wir sowieso beieinander waren, konnten wir doch auch Smalltalk führen. Außerdem spürte ich in mir dieses geweckte Interesse an dem Punk-Mädchen.

Sie drehte ihren Kopf zu mir und ich sah nun direkt in ihre tiefen, braunen Augen, die mich anfunkelten wie zwei edle Bernsteine und aus irgendeinem Grund geheimnisvoll und anziehend wirkten.

   »Bin geflogen«, antwortete sie kurz und knapp, offen und ehrlich, als sie ihren Blick wieder auf das Wasser im Becken gerichtet hatte.
   »Weshalb?«, hakte ich weiter nach und ihre Augen trafen wieder meine.
   »Da haben mehrere Gründe mitgespielt. Ist doch auch egal. Ich bin jetzt hier und hier ist es mit viel Abstand besser als dort.« Sie stand auf. »Vor allem, wenn ich diesen Anblick jetzt jede Woche genießen darf.« Wieder dieses Lächeln, eines, das ich bestimmt nie wieder vergessen werde.

Von einem durchnässten Hund im roten Badeanzug? Sie besaß wohl einen eher ausgefallenen Geschmack von Ästhetik und damit meinte ich nicht ihre punk-artige Ästhetik, die sie optisch ausstrahlte.

   »Man sieht sich, Nerd«, verabschiedete sie sich, während sie sich im Rückwärtsgang von mir entfernte, bis sie geradewegs aus der Halle lief und mich zurückließ.

Nerd. Den Begriff kannte ich gut in Verbindung mit mir. Es kam so ziemlich aus dem Nichts, dass sie mich so nannte, ergab jedoch einen relativ großen Sinn. Auch wenn ich so sehr wünschte, dass man mich als normale Schülerin wahrnahm, nur weil ich gute Noten schrieb. Bei Estelle aber wusste ich gleich, dass sie es als Spaß meinte oder mich eben einfach nur damit necken wollte.

• • •

Die Trainingsstunde war vorbei und ich kam ausgepowert aus der Schwimmhalle und verließ die Schule. Zu meiner entdeckte ich Dave und Trisha am Tor der Schule, die mir zuwinkten und ein Lächeln ins Gesicht zauberten.

Dave umarmte mich und gab mir einen sanften Kuss auf die Lippen.
   »Okay, Turteltauben. Nehmt euch ein Zimmer«, sagte Trisha genervt, aber lachte daraufhin. Sie kannte es gut genug. Schließlich war sie diejenige, die uns miteinander verkuppelt hat, vor mittlerweile vierzehn Monaten. Dieser Junge passte augenscheinlich viel zu gut zu mir. Deswegen funktionierte unsere Beziehung wahrscheinlich so unheimlich gut.

Mit meiner besten Freundin und meinem Freund machte ich mich also auf den Heimweg und ich erzählte den beiden kurz von meinem Training, das sich diesmal wieder für mehrere Teammitglieder sehr gelohnt hatte.

   »He, habt ihr eigentlich auch schon dieses neue Mädchen gesehen? Diese mit den roten Strähnen und dem allgemein ziemlich auffälligen Look.« Ich konnte gar nicht kontrollieren, wie schnell mein Kopf sich zu Trisha drehte. »Sie war in meinem Biologiekurs in den letzten beiden Stunden und wirkte auf mich, als würde sie komplett auf Schule scheißen. Ehrlich! Ich habe mich gefragt, was sie überhaupt noch im Unterricht macht.«

Ich schluckte. Alles grob zusammengefasst war bestimmt ihr Desinteresse an Schule für ihren Rauswurf der letzten verantwortlich. Das “Nope” von Dave riss mich wieder aus den Gedanken an sie.

   »Ich weiß, wen du meinst«, setzte ich an. Meine Eltern haben mich so erzogen, viel Wert auf Ehrlichkeit zu legen. Doch immer ehrlich zu sein, schafften sicherlich nicht einmal sie, denn auch wenn es nur kleine Lügen waren, jeder verwendete sie. »Sie war heute Morgen bei mir in Geschichte gewesen. Ich kannte sie übrigens schon.«

Es war nicht nötig, meine Bekanntschaft mit ihr zu verheimlichen, auch wenn Dave und Trisha vielleicht Vorurteile gegenüber ihr haben würden. Hoffentlich begannen sie nicht gleich, sie seltsam zu finden, nur weil sie trug, was sie trug.

Über den Tag hinweg sind mir schon mehrere abschätzige Blicke aufgefallen, die sie abbekam. Es schien sie wenig zu interessieren und das lag wahrscheinlich daran, dass sie schon oft genug damit konfrontiert wurde. Ich verstand diese Blicke nicht. Wieso konnte man nicht einfach anziehen, worauf man Lust hatte? Das wichtigste war doch, dass die Person sich wohlfühlt und fremde Menschen können sich doch einfach da raushalten.

   »Vor ein paar Tagen habe ich sie an der Bar kennengelernt. Witziger Zufall, dass sie plötzlich in meinem Unterricht saß«, erklärte ich. Wir liefen weiter und ich sah nur auf dem Weg, der vor uns lag.

   »So sieht sie auch aus. Als würde sie nachts in Clubs zu irgendwelchen Techno-Songs abgehen und Tequila trinken«, sagte Trisha. Diese Aussage machte mich wütend. So kannte ich meine beste Freundin nicht. »Eigentlich wollte ich nicht so gemein klingen. Ich meine, wir sehen doch auch aus wie typische Nerds, oder?« Geradeso noch gerettet, Trisha.

The touch of an angel Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt