Wie sieht die Wahrheit hinter dem Schein unserer Alltagswelt aus?

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Der babylonische Stadtkegel ist in Wahrheit niemals eingestürzt. Er wird seit Jahrtausenden immer höher aufgetürmt, wobei jede neue Etage der jeweils neusten Zivilisationsepoche der Menschheit entspricht. In der zweitobersten Etage, wo wir in Wahrheit jetzt gerade umherirren, bedecken moderne Werbebildschirme die Hausfassaden. Unter ihren zuckenden Farben wandern wir auf sinnlosen Pfaden im Kreis, wir Bürger der Sündenstadt des Glamours und der Selbstverwirklichung. Denn unsere Sinne sind gefangen in unserer persönlichen Scheinwelt und was wir wahrnehmen, ist nur ein schaler Abklatsch der Wirklichkeit, die schöner, schrecklicher, gewaltiger ist als unsere Scheuklappen uns sehen lassen. Wo wir einen alltäglichen Supermarkt wahrnehmen, erstreckt sich in Wahrheit der Basar der tausend und abertausend Güter. Aber wir bemerken von all den Wundern und Schrecken um uns fast nichts, denn wir achten nur auf das, was in Bezug zu unserer Selbstverwirklichung steht. Und das ist das wahre Geheimnis der Macht über andere Menschen: Füttere ihre Fantasie mit einem Selbstbild, das ihnen mehr und besser scheint als ihr wahres Ich und sie werden Sklaven einer falschen Selbstverwirklichung. Dann sehen sie von der Welt nur noch ihre Schönheit, ihre Karriere, ihren Erfolg und das, was dazu noch fehlt - eine begrenzte Scheinwelt. Sie kämpfen sich mühsam in ästhetischen Hierarchien empor, Stufe für Stufe, Stockwerk für Stockwerk, aber der Turm von Babel ragt endlos hoch empor.

„Begeisterung ist ein machtvolles Elixier, sie ist eigentlich alles. Begeisterung ist das Hauptwirtschaftsgut, der Rohstoff und die Währung in der Trichterstadt Waylhaghiri. Alle Zivilisationsepochen der Menschheit sind dort übereinandergeschichtet, Ebene für Ebene. Und Serisada kämpft sich empor, von tief unten, aus dem Gestank der Gerbgruben und Talglichter in einer Ebene wie im alten Rom. Weiter oben sieht es aus wie im Mittelalter, dort muss sie an einem menschenfressenden Wegelagerer vorbei, der sich als Bettler verkleidet hat und ihr schaurige Märchen erzählt. Sie erreicht eine frühindustrielle Zone mit Gaslaternen. Aber dort ist ihr die Geheimpolizei des Prinzen auf den Fersen. Sie kann sie aber im Gedränge eines Rummelplatzes abhängen. Alle Bewohner von Waylhaghiri irren wie betäubt umher, jeder ist gefangen in seinem persönlichen Traum. Sie werden gelenkt von einem Zentralcomputer, der sie in Illusionen gefangen hält. Sie absolvieren Rituale von Wohlstand und Glamour. Es gibt in Waylhaghiri auch einen Ort, der wie ein endloser Supermarkt aussieht, ein Supermarkt so groß wie eine Stadt - überhaupt sehen alle Orte dort aus wie überzeichnete Zerrbilder unserer Alltagswelt, als wäre unsere Realität nur eine blasse Erinnerung an etwas Eigentliches. In der Mitte des Stadtkegels gibt es einen Schacht bis zum Grund. Am Rand dieses Schachts hängt eine gotische Kathedrale über dem Abgrund, als ob sie jeden Moment hineinstürzt. Ihre Fenster sind bunt und blutrot angeleuchtet. Es ist die waylhaghirische Bordellkathedrale."

Ich sehe den Papierstapel auf dem sonnigen Schreibtisch aufragen, als wäre er der babylonische Stadtkegel. Als könne er meine Gedanken lesen, setzt Karl hinzu:

„Wenn du wissen willst, wie man gewinnt, wie man wirklich immer gewinnt, nimm dir Prinz Zazamael als Vorbild. Er ist der ultimative Manipulator."

Widerwillig frage ich:

„Und? Erzähl mir von ihm."

„Prinz Zazamael ist der unsterbliche Herrscher über den Stadtkegel von Waylhaghiri. Er ist halb ein verwöhntes Kind, halb ein tyrannischer Rockstar. Er ist ein Diktator des Glamours. Wie ein imperialer Kaiser wechselt er mehrmals täglich die Galauniform, oder die DJ-Shorts, oder was auch immer er trägt. Sein Gesicht über seiner lebensfrohen Kostümierung ist blass und zerquält, wie es Kindergesichter kaum jemals sind. Seine Augen glühen von ungesundem Feuer, wie berauscht, bleiben aber gleichzeitig leer, wie abwesend. Sein dunkles Haar darüber ist elegant frisiert, aber wie oft zerrauft es sich der Prinz. Zazamael schläft schlecht und hat stets Angst vor der Einsamkeit in den Nachtstunden. Seine Bewegungen sind matt, bis ihn unvermittelt ein Gefühlsimpuls packt. Dann sind sie so kraftvoll, dass alle vor Angst den Atem anhalten. Sie wissen, wie jäh seine exzentrischen Launen wechseln, wie er erst flüstert und dann plötzlich losbrüllt, wie er einen Untertan liebevoll aufbaut über Jahre hinweg und dann in einem einzigen Moment alles kaputtmacht, indem er ihn vor aller Augen runtermacht, als wäre er bloß Dreck. Die leise Stimme des Prinzen hat immer einen subtilen Unterton von Spott, selbst bei den Themen, die ihn am meisten begeistern und schlimmer: Der Prinz hat trotz seiner tödlichen Macht stets Angst, auf subtile Weise verspottet zu werden. Immer wieder kommt es deshalb zu tragischen Missverständnissen. Er ist empfindlich wie ein sensibles Kind. Er nimmt die mannigfaltige Fülle aller Drogen, die es in Waylhaghiri gibt, und wird jedes Mal neu von ihrer Wirkung enttäuscht. Er bleibt ewig einsam, denn in allem, was ihn umgibt, findet er nur ein lächerliches Zerrbild seiner selbst. Er ist nimmersatt nach jeder Art von Erfolg und seit Äonen einziger Preisträger aller Wettbewerbe jeglicher Art in Waylhaghiri. So verlangen es Gesetz und Tradition. In seinen schlaflosen Nächten wirft er sich in seinem Prunkbett hin und her und träumt von Serisada, dem einzigen wahren Gegenüber, das Einzige, was er nicht bekommen kann. Er will ihr Reich erobern und sie in seine Stadt holen als seine Braut. Vielleicht bloß, um endlich einmal jemand von außen den Prunk und den Fortschritt Waylhaghiris zeigen zu können, sein Werk. Waylhaghiri steht für die menschgemachte Ästhetik, für den Nachbau von Träumen in allen Details, immer beeindruckend, aber nie befriedigend, dieses Streben nach Perfektion. Technologiestars wie Mark Zuckerberg und Elon Musk sind Zazamaels blasse Mittelschichtsabbilder, kleingeistige träge Spießer ohne Ambition sind sie, verglichen mit ihm."

Ich sehe vor meinem inneren Auge den waylhaghirischen Stadtkegel, so viele Etagen in Jahrtausenden übereinandergeschichtet, und alles, was seine Zivilisation verheißt, ist bloß schaler Lug und Trug, wohlkalkulierte Machtausübung. Prinz Zazamael, ein narzisstisches verwöhntes Kind, ein Rockstar, ein blutrünstiger Diktator – er ist ein Meister der Show, wie Hitler ein Meister der Show war. Er ist ein selbstverliebtes, unendlich gelangweiltes Monster, das Menschenblut trinkt und sich an menschlichen Gefühlen labt wie ein Vampir.

Mein Mund ist trocken, als ich frage:

„Warum wagt sich ein schutzloses Mädchen wie Serisada in diese gefährliche Stadt? Geht das gut aus?"

„Lies das Ende selbst nach. Es gibt im Sumerland eine Prophezeiung, wonach die Prinzessin – und allein die Prinzessin – Zazamaels Untertanen aus dem Wahn befreien kann, in dem der Prinz sie gefangen hält. Sie kann allen die Augen öffnen und eine Revolution entfachen. Nur so kann Serisada die Okkupationsarmee des Prinzen stoppen, die ihr Reich annektiert. Deshalb muss sie es wagen."

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