Ylva wachte früh auf, entschlossen, Kaels Angebot anzunehmen. Sie konnte nicht länger im Dunkeln tappen und musste ihre Kräfte verstehen lernen.
Kurz nach dem Morgengrauen schlich sie sich aus dem Waisenhaus und machte sich auf den Weg zu dem vereinbartem Treffpunkt - einer alten, verlassenen Schmiede am Rand von Eldoria.Das Treffen hatten sie heimlich am Abend zuvor vereinbart. Kael war nach ihrer ersten Begegnung unerwartet wieder im Waisenhaus aufgetaucht, als Ylva sich in der Bibliothek weiter über die Schicksalsbinder informierte. Er hatte ihr ein kleines Stück Pergament zugesteckt, auf dem in feiner Handschrift die Worte standen:
„Morgen früh, bei Sonnenaufgang, in der alten Schmiede. Vertrauen."Ylva hatte lange überlegt, ob sie das Risiko eingehen sollte, doch schließlich überwog ihre Neugier und ihr Bedürfnis, ihre Kräfte zu verstehen.
Nach einem etwas längerem Fußmarsch erreichte Ylva die abgelegene Schmiede, welche im Licht der aufgehenden Sonne Gold zu schimmern schien. Die Umgebung wirkte ruhig und sie konnte Kael erkennen, der bereits auf sie wartete. Seine Augen beobachteten sie aufmerksam und er schien alles drumherum im Blick zu haben. „Du bist gekommen", sagte er, als sie näher trat.
Ylva nickte. „Ich muss wissen, wie ich meine Kräfte kontrollieren kann."Kael lächelte und führte sie ins Innere der Schmiede. Der Raum war dunkel, nur durch ein Fenster schien ein goldener Lichtstrahl Morgensonne und es roch nach altem Metall und Asche.
Kael begann einige Runensteine in einem Kreis auf dem Boden zu legen und Ylva beobachtet dabei jede Bewegung von ihm haargenau. Er begann Ylva die Grundlagen der Magie und der Schicksalsbinder zu erklären und er zeigte ihr, wie sie die Fäden des Schicksales visualisieren konnte, und führte sie in einfache Übungen ein, um diese zu manipulieren.
Durch den ganzen Prozess hindurch fragte sich Ylva, woher er all dies wusste und wer er eigentlich war. Jetzt, da er sich nicht nur in den Schatten verhüllte konnte Ylva auch zum ersten mal sein Gestalt richtig betrachten.Er schien ein charismatischer und geheimnisvoller Mann zu sein und in den späten Zwanzigern. Seine Gestalt war athletisch und durchtrainiert, was Ylva auf jahrelange Erfahrung im Kampf und Überleben zurückführte. Er war etwas größer als Ylva und hatte eine aufrechte und selbstbewusste Haltung.
Sein Gesicht war markant und kantig und seine Haut trug einen leicht gebräunten Ton, als hätte er viel Zeit im Freien verbracht. Kaels Augen waren tiefgrau, fast silbern, und schienen immer stets zu beobachten und zu analysieren. Seine Haare waren dunkelbraun, fast schwarz, und reichte ihm knapp über die Ohren. Sie waren zerzaust und von einem einfachen Lederband zurückgehalten, damit die ihm nicht vor den Augen hingen. Ein leichter Bartschatten bedeckte sein Kinn und die Oberlippe. Seine Kleidung war praktisch und robust in dunklen Farben gehalten.
Seine gesamte Erscheinung strahlte Autorität und Erfahrung aus.Ylva würde lügen wenn sie nicht sagen würde, dass sie großen Respekt vor ihm hatte.
Darum fühlte sie sich auch zunehmend wie eine Versagerin in seiner nähe, da es ihr zunächst schwer viel, die unsichtbaren Fäden zu sehen. Es schien so, als könne Kael die Fäden selbst gar nicht sehen oder berühren, dennoch schien er zu wissen wo sie waren und leitete Ylva geduldig an.
Nach vielen konzentrierten Versuchen gelang es ihr dann auch endlich. Es waren nicht viele Fäden und sie leuchteten nicht so stark wie bei dem Kampf gegen die Banditen, dennoch spürte sie ganz deutlich, wie die Fäden durch ihre Finger glitten und sie auf eine Weise gehorchten, die sie kaum glauben konnte.„Das ist erst der Anfang", sagte Kael, während Ylva eine kleine Flamme in ihrer Hand formte, indem sie die Fäden miteinander verflocht. „Du hast großes Potential, Ylva."
Ylva spürte den Stolz in seinen Worten, doch bevor sie darauf antworten konnte, wurden sie durch laute Schritte unterbrochen. Kael zog Ylva schnell hinter einen Haufen alter Werkzeuge, als eine Gruppe von Stadtwachen in die Schmiede stürmte.
„Wir wissen, dass du hier bist, Kael!" rief einer der Wachen. „Zeig dich!"
Kael flüsterte Ylva zu, sie solle ruhig bleiben. Doch die Wachen kamen näher, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie entdeckt würden. Ylva spürte, wie Panik in ihr aufstieg, doch sie zwang sich zur Ruhe.
Kael griff nach Ylvas Hand. „Du musst jetzt etwas tun. Erschaffe eine Illusion. Traust du dir das zu, Ylva?" flüsterte er dringend. „Ich kann die Fäden nicht sehen oder berühren, aber du kannst es."
Ylva nickte zögerlich und atmete tief ein und aus. Sie musste sich beeilen, also konzentrierte sie sich, ihre Angst in Entschlossenheit umzuwandeln. Sie fokussierte sich auf einen der Fäden und zog sanft daran. Eine Illusion entstand in der Mitte der Schmiede, ein täuschend echtes Bild von Kael, das die Wachen in die Irre führte. Ylva fragte sich, wie sie das denn nun so hinbekommen hatte. Lange darüber nachdenken konnte sie allerdings nicht, da Kael die Verwirrung der Wachen ausnutzte und Ylva hinter sich her zog und durch den Hinterausgang floh.
Sie rannten durch die engen Gassen der Stadt, die Wachen, welche die Illusion schnell enttarnt hatten, dicht auf ihren Fersen. Kael führte Ylva durch das Labyrinth aus Straßen und versteckten Wegen, bis sie schließlich in einem verlassenen Gebäude Zuflucht fanden. Dort, außer Atem und erschöpft, erklärte Kael weiter.
„Die Wachen sind nicht nur wegen ihrer Loyalität zum König gefürchtet. Sie haben die Autorität, jeden zu verhaften und hinzurichten, der auch nur verdächtigt wird, Magie zu benutzen. Ihre Brutalität hat sie zu den am meisten gefürchteten Personen in Eldoria gemacht. Und der König unterstützt sie, weil sie seine Macht sichern und jede Form von Rebellion im Keim ersticken."
Ylva hörte aufmerksam zu, während Kael von den Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten erzählte, die in Eldoria herrschten. Sie spürte, dass ihre eigenen Fähigkeiten Teil eines größeren Puzzles waren. Ihr Schicksal war nicht nur ihr eigenes - es war mit dem Schicksal der ganzen Stadt verbunden.
„Warum erzählst du mir das?" fragte Ylva schließlich. „Was habe ich damit zu tun?"
„Du bist eine Schicksalsbinderin", antwortete Kael. „Deine Kräfte könnten den Unterschied im Kampf gegen die Unterdrückung ausmachen. Du musst dich entscheiden, ob du uns helfen willst."
Ylva war überwältigt von den Enthüllungen und Entscheidungen, die vor ihr lagen. Sie wusste, dass ihr Weg voller Gefahren war, doch sie spürte auch, dass dies ihre Bestimmung war. Langsam nickte sie.
„Ich werde dir helfen", sagte sie entschlossen. „Ich werde lernen, meine Kräfte zu nutzen - und gegen die Ungerechtigkeit in dieser Stadt kämpfen."
Kael lächelte zum ersten Mal warm.
„Willkommen im Widerstand, Ylva."
Kapitel 3 Ende
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Die Schicksalsbinderin
Fantasía𓇢𓆸 𓇢𓆸 𓇢𓆸 𓇢𓆸 Ylva, eine kluge und kämpferische 19-jährige Frau, hat ihr Leben im Waisenhaus von Eldoria verbracht und gelernt, sich alleine durchzuschlagen. Doch als sie entdeckt, dass sie die Gabe besitzt, die Fäden des Schicksals zu weben...