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Tausend funkelnde Sterne bedeckten den Nachthimmel über Neor. Selbst Oros leuchtete in seiner Pracht. Das Wasser reflektierte das Funkeln in den übereinanderschlagenden Wellen. Das Licht verzerrte sich durch die stetigen Bewegungen des Meeres.
Oros war unruhig. Ein starker Wind fegte von Westen her und brachte die Wellen wild durcheinander.
Dieser Wind diente nur als Vorbote auf das, was bald folgte. Ein Sturm zog langsam auf die Stadt zu. Noch lag Nero still da und genoss die Ruhe, die sich den Bewohnern bot. Doch es dauerte nicht lange, bis auch sie sich in ihre Häuser begaben, um sich vor dem Sturm in Sicherheit zu bringen.
Die Menschen in Neor lebten in Armut und konnten sich meist den Luxus eines beheizten Hauses nicht leisten. Dafür aber besassen sie ein Dach über dem Kopf, der sie vor der Gefahr eines Sturmes schützte.
Anders als in Enos, wo die Leute hinter ihren dicken Mauern selbst ein warmes Bad geniessen konnten.
Neor war im Vergleich nur das Armenviertel Neros'. Hier war die Kriminalität weit verbreitet. Doch wie sonst, wollte man in einer Stadt wie dieser überhaupt überleben?
In Neor bedeutete Familie nichts. Die Menschen waren verstritten, Brüder waren nichts weiter als Fremde, die nur zufälligerweise dieselben Eltern aufwiesen. Blut hatte keine Bedeutung mehr. Erst wenn es darum ging, wer es als erster vergoss, um ein Stückchen Brot zu ergattern.
Die einzigen Familien, die wirklich zählten, waren die Bandenmitglieder. Zusammengewürfelt aus Waisen und Dieben, die allein nicht überleben konnten. In einer Bande konnte man sich ein Leben aufbauen, doch dafür musste man zu allererst ihrem Anführer vertrauen und dessen Dienste erfüllen.
Nicht weit von der Küste entfernt, nahe dem westlichen Hafen lebte eine junge Frau, die weder eine Familie besass noch einer Bande vertrauen schenken wollte.
Auf den Dächern Neors war sie Zuhause. Sie war keines der Kinder, die in Enos' warmen Häusern lebte oder unter Neors Dächern Schutz fand.
Verborgen unter der Kapuze ihres Mantels versteckte sie ihr Gesicht und hielt sich an dem warmen Schornstein fest. Der heisse Stein erwärmte ihre kalten Finger.
Ihr Blick ging nach Westen, wo die Wolken sich über Oros ansammelten. Nach und nach verschwanden die Sterne unter der Nebelschicht.
Wo zuvor noch Handelsschiffe zu sehen gewesen waren, lag das Meer nun verlassen vor.
Die junge Frau hat schon jegliche Schiffe an Land anlaufen sehen, doch nicht eines davon gehörte einem Freibeuter. Sie hatte schon viele Geschichten über die Schlachten der Piratenlords gehört, doch noch nie war sie einem begegnet.
Es verwunderte sie aber auch nicht wirklich. König Narron I. hatte vor Jahren dafür gesorgt, dass die Piraten ins Exil verbannt wurden, als sein Bruder, der rechtmässige König und dessen Tochter von einem Lord ermordet worden waren. Setzte ein Pirat doch seinen Fuss auf Neor oder Enos, dann überlebte es dieser keinen Tag.
Unruhig schüttelte die Frau ihre düsteren Gedanken ab und liess sie vom Wind forttragen. Ihr Blick zog weiter. Sie ging um den Schornstein und blickte nach Osten. In der Ferne erblickte sie die Mauer, die Neor und Enos voneinander trennte. Arm und Reich, getrennt durch die Herrschaft eines Königs.
Widerwillig löste sie sich vom warmen Stein und balancierte über den schmalen Pfad der Dachspitze. Sie erreichte das Ende des Daches und wandte sich auf die rechte Seite, die leicht in die Tiefe abflachte.
Nur sehr schwach konnte sie in der Dunkelheit die Regenrinne ausmachen. Mit den Augen folgte sie seinem Weg, bis er in einem abfallenden Rohr endete.
Ganz vorsichtig stieg sie übers Dach, bis sich vor dem Rohr zu stehen kam. Sie blickte ein letztes Mal sehnsüchtig zum warmen Schornstein auf. Dann griff sie nach dem kalten Metall und klammerte sich daran fest, um Schritt für Schritt hinab zu klettern.
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Lunaris - Das Kind des Sturmes
Fantasy»Wer bist du?« Wieder wandte sich der Captain an Ruelle. »Ist es mir jetzt erlaubt zu sprechen?«, sagte sie, bevor sie über ihre Worte nachdachte. Das wars wohl mit gehorchen. »Ich könnte euch auch einfach von meinem Schiff werfen.« Der Captain ha...