🌸Ereignisse, die so nicht hätten passieren sollen🌸

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„Ich bin mal gespannt, ob die Jungs den Dämon vor uns ausfindig machen können oder ob wir ihm zuerst auf die Schliche kommen", sinnierte ich.
Nach wie vor saßen Tengen und ich unter dem Sternenhimmel auf dem Dach. Noch immer in entgegengesetzten Richtungen. Auch schmiegte ich immer noch meinen Kopf gegen seine Schulter an, während ich seinen breiten Arm umschlossen hielt. Unterbewusst hatte ich ihn dort, wo meine Hand ruhte, mit dem Daumen Gedanken versunken gestreichelt. Unsere nächtliche Patrouille hatte erst vor kurzem begonnen, so ließen wir immer noch die Verschnaufpause zwischen uns weilen.
„Ich hoffe doch, dass wir die Ersten sind. Ich habe dabei kein gutes Gefühl, wenn er erst auf die Jungs trifft..."
„Und wenn es doch passieren sollte, bete ich dafür, dass sie uns schnell genug Bescheid geben können. Aber ich muss auch zugeben", begann ich neugierig, „dass es mich brennend interessiert, welche Stile sie benutzen. Also welche Atmungen."
„Typisch du", lachte Tengen auf, „ich hoffe doch, dass sie wenigstens wissen, wie man ein Katana richtig schwingt, aber du hast schon immer auf triviales gestanden."
„Hallo?! Wer nicht? Ich mag sowas und ich stehe auch dazu. Genauso wie ich immer noch daran glaube, dass aus Mitsuri und Obanai ein Paar wird."
Damit riss ich ihn aber nun wortwörtlich in die Verwunderung und er schaute mich entsetzt an.
„Was?! Habe ich das gerade richtig gehört?! Mitsuri und Obanai? Kannst du mir bitte mal verraten, wie du darauf kommst?"
„Tengen", begann ich eindringlich und schaute in sein verdutztes Gesicht, „merktest du nicht, welche Blicke Obanai Mitsuri zuwarf? Er war unterschwellig verändert, wenn er in ihrer Nähe war. Er war dann auf eine Art und Weise sanft sowie auch schüchtern oder besser gesagt eingeschüchtert und das, obwohl er sonst immer sehr geheimnisvoll und kalt ist. Ist dir das noch nicht aufgefallen?"
Seiner Reaktion nach zu urteilen konnte ich also davon ausgehen, dass die beiden es immer noch nicht zueinander geschafft hatten. Bedauerlich, wenn man die Gefühle der beiden sofort verspürt hatte. Ich hoffte innig, dass die beiden bisweilen ihr Interesse aneinander nicht verloren hatten. Schließlich war das indessen mehr drei Jahre her.
„Nee. Absolut nie. Das kommt auch ziemlich überraschend."
„Musst du mal drauf achten, wenn du beide aufeinandertreffen siehst. Genauso bin ich auch der Meinung gewesen, dass Sanemi heimlich Interesse an Kanae hatte."
„Also jetzt spinnst du doch total, oder?", entlockte ich ihm erneut die Verwunderung heraus, „Sanemi Interesse an Kanae? Ich war eher der Meinung, dass er ein Auge auf dich geworfen hat."
„Auf mich?!", warf ich nun entsetzt ein, „was hast du denn bitte gesehen, was ich nicht gesehen habe?!"
„Ganz einfach, er hat sehr oft das Training mit dir gesucht. Immer wenn ich auf ihn gestoßen war, hat er nach dir gefragt. Und ihr habt auch sehr oft miteinander trainiert."
Meine Stirn hatte vermutlich noch nie so tiefe Falten geschlagen, wie in jenem Moment. Dennoch lehnte ich wieder meinen Kopf an seine Schulter und erzählte.
„Ich glaube, Tengen, dass du da etwas sehr missverstanden hast. Ja, ich habe überdurchschnittlich oft mit Sanemi trainiert oder besser gesagt hatte er mich zum Kampf herausgefordert, weil er es nie verkraften konnte, dass ich ihm überlegen war. Und dass er ausgerechnet immer bei dir nach mir gefragt hat, lag vermutlich auch nur daran, weil du mein persönlicher Leibwächter warst und wir obendrauf zusammen gewohnt haben. Selbst Giyu hatte mich irgendwann dann auch angefangen zu fragen, warum er mich so oft gesucht hatte. Und wieso ich das mit Kanae vermute? Weil er mich nach jedem Training indirekt über sie was gefragt hat oder von ihr geschwärmt hat, ohne ihren Namen zu nennen oder mich auch teils Sachen gefragt, wie man einer Frau am besten imponieren konnte. Und wenn du ihn genauer beobachtet hättest, dann hättest du gesehen, wie seine Augen angefangen haben zu leuchten, wenn Kanae in seiner Nähe war oder er indirekt von ihr sprach. Sanemi hatte nie Interesse an mir und da bin ich auch ganz froh drum. Er mag so an sich ein hübscher Kerl sein und auch das Herz am richtigen Fleck haben, aber Sanemi ist überhaupt nicht mein Typ."
„Erstaunlich, ich hätte darauf wetten können, dass er in dir mehr gesehen hatte, als wir dachten. Aber jetzt mal ehrlich, Kaori... Du übertrumpfst Sanemi? Unseren Sanemi Shinazugawa?!"
Das schürte immense Zweifel in ihm. Zugegeben zu Recht. Sanemi galt unter uns als der Zweitstärkste, was mitunter an seiner Impulsivität lag. Auch sonst hatte er keinen großen Hehl daraus gemacht, sein Potenzial an Kraft zu zeigen.
Ich nickte, „ja, das tat ich. Zu Beginn unserer Kämpfe brachte mich Sanemi ohne Ausnahme immer wieder zu Fall. Er machte sich lustig über mich, hatte mich als Schwächling bezeichnet und hatte Gefallen daran gehabt, mich als sein Opfer auserkoren zu haben. Das hat mich auch irgendwann richtig verletzt und auch wütend gemacht. Das war auch teils der Grund, warum ich vermehrt schlechte Laune gehabt hatte. Aber Tengen, du kennst mich am besten. Ich beobachte sehr viel. Zwischenmenschlich sowie auch kampftechnisch. Und daraus ziehe ich so einige Schlüsse... Mit jedem weiteren Kampf lernte und prägte ich mir seine Kampftechniken und ausgeklügelten Strategien sehr genau ein und ging zum geschickten Gegenangriff über. Das hat wirklich lange gedauert, denn wir wissen alle, wie unheimlich stark und windig Sanemi ist. Ich hatte unsagbar Mühe gehabt, gegen ihn standhaft zu bleiben, aber er hat immer wieder die gleichen Angriffsmuster und darin habe ich seine Schwächen gesehen und diese mir zum Vorteil gemacht. Seit diesen Tagen kam er nicht mehr gegen mich an. Und das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er hatte sein Angriffsmuster und Schema geändert und es angepasst und neue mit eingebracht. Aber es reichte nicht. Er kam nicht mehr gegen mich an. Diese ganzen Trainingskämpfe haben aber auch letztlich dazu geführt, dass auch ich in allem gewachsen bin. Und das hat ihn bis zum Schluss richtig angekotzt."
Er hob seinen Kopf an und schaute zu mir herab, wobei ich in sein stolzes Gesicht aufsah. Jenes stolze Lächeln, welches er mir geschenkt hatte, wenn ich eine schwere Prüfung abgelegt hatte.
„Prächtig! Ich hätte nie damit gerechnet, dass du es so weit bringst. Nicht, weil ich nicht an dich geglaubt habe, aber wir reden hier von Sanemi. Außerdem weiß ich auch, dass du nicht oft zeigst, was wirklich in dir steckt."
„Nein, Tengen. So gut bin ich auch wieder nicht. Ich lerne lediglich die Schwächen meiner Gegner und nutze sie zu meinem Vorteil."
„Keine falsche Bescheidenheit, Kaori!", tadelte er mich ernst, „ich habe gemerkt, dass dein Auffassungsvermögen sehr stark ausgeprägt ist, weshalb ich auch unbedingt wollte, dass du mein Tsuguko wirst. Ich habe dein Potenzial bereits sehr früh gesehen. Je mehr ich mit dir gekämpft habe, dich trainiert und kennengelernt habe, wurde mir immer klarer, dass du eine Säule werden kannst. Ja, das Training war hart, insbesondere meins, aber selbst das hast du gemeistert."
„Unter welchen Umständen ist dir gar nicht bewusst, oder?", beklagte ich mich, „ich bin durch die Hölle gegangen! Ich habe dich verflucht. Beleidigt. Beschimpft. Dich gedanklich umgebracht... Tengen, ich habe dich teilweise gehasst. Du warst manchmal unausstehlich. Glaub mir, wenn du nicht manchmal so fürsorglich gewesen wärst und doch irgendwo auf mich achtgegeben hättest, dann glaub mir, du wärst eines Nachts nie wieder aufgewacht..."
Noch heute spürte ich diese Wut in mir, die ich damals gegen ihn gehegt hatte, als er mich wortwörtlich durch die Mängel genommen hatte. Dennoch war ich ihm unendlich dankbar dafür gewesen. Er lachte auf. Er schien mit diesen Worten bereits gerechnet zu haben.
„Ich weiß, Kaori. Ich weiß. Mein Training ist kein Zuckerschlecken und auch ich habe mir manchmal darüber Gedanken gemacht, ob ich nicht zu hart zu dir gewesen war. Ich habe auch ab und zu mal auf die Bremse gedrückt und etwas das Tempo rausgenommen, aber ich bin unendlich stolz darauf, was du erlernt hast und wie weit du es geschafft hast", merkte er aufrichtig an, „... Hasst du mich immer noch dafür?"
Unsere Blicke trafen sich erneut. Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes und erhabenes Lächeln. Auch sah ich darin eine seichte entschuldigende Kurve, für seine gnadenlose Art. Wie konnte ich ihm da noch böse sein? Dennoch, wenn ich darüber nachgedacht hatte, dann hätte ich ihn trotzdem dafür büßen lassen können, aber im Grunde war das, was er getan hatte, vollkommen richtig.
„Nein, Tengen", antwortete ich klar und bestimmend, „ich lieb dich immer noch. Als meinen großen Bruder. Und harten Meister. Ich bin dir dankbar dafür. Aber, ja, zu dieser Zeit habe ich dich teilweise echt gehasst. Wenn deine Frauen nicht manchmal mit mir darüber gesprochen hätten, dass du dir doch teils Sorgen um mich gemacht hattest, dann hätte ich aufgehört."
Da hoben sich doch glatt seine Mundwinkel weiter hinauf und sein Grinsen wurde breiter als zuvor. Behutsam legte er mir seine große und warme Hand auf meine Wange, während er mit seinem Blick den meinen einfing und es mir nicht mehr möglich war, zur Seite hinwegzuschauen. Ich schluckte schwer. Mir wurde plötzlich unsagbar heiß und meine Wangen verglühten förmlich. Wieso schlug auf einmal die Stimmung zwischen uns derartig um? Hatte ich was Falsches gesagt? In meinem Bauch begann es zusätzlich fürchterlich zu kribbeln.
„Mir hast du damit eine riesengroße Chance ermöglicht, Kaori. Ich habe dich gerne als meinen Tsuguko gehabt und ich würde das auch mit dir immer wieder tun. Vielleicht nicht mehr in dieser harten Strenge, aber diszipliniert. Ich danke dir dafür."
In seiner sonst so harten Stimmfarbe schwang immens viel Zärtlichkeit mit. Es klang fast schon lieblich. Ich bemerkte mein wildes Herz pochen, was mein Blut ordentlich in Wallung brachte und mir noch heißer wurde. Im nächsten Wimpernschlag vernahm ich, dass mir Tengen mit seinem Gesicht gefährlich nah kam. Millimeter um Millimeter und schon spürte ich seine weichen Lippen auf meinem Mundwinkel. Zart und kurz, aber lang genug, um mich durcheinander zubringen. So schnell er mir näherkam, hatte er sich auch genauso schnell wieder von mir entfernt und strich mit seinem Daumen über meine Wange.
Wortlos schaute ich ihn aus großen violetten Augen an. Hatte er mich gerade ... Geküsst?! Also ... Zumindest halb?! Der Tengen? Dessen Gefühle zueinander rein platonischer Herkunft waren? Oder hatte ich an ihm etwas übersehen? So nah kam er mir noch nie. Es war nicht so, dass es nicht bereits Momente gab, wo wir uns nähergekommen waren, aber das waren rein freundschaftliche Annäherungen. Keine in Richtung Romantik.
„...", ich versuchte was darauf zu erwidern, jedoch was?
Sowas wie; Tengen, ich finde dich zwar heiß, aber eine Beziehung möchte ich nicht mit dir eingehen?! Man! Wieso reagierte ich so auf ihn? Ich liebte Giyu und Tengen sah ich mit Respekt wie eine Art großen Bruder an. Mein Meister, wie ich ihn auch oft liebevoll genannt hatte. Oder empfand ich doch mehr für ihn, als ich es mir eingestanden hatte? Oder gar Tengen für mich?
Verdammt! Sagte doch etwas! Du oder ich... Wieso war das so schwer?!
Wortlos ließ Tengen wieder gänzlich von mir ab und erhob sich von seinem Platz.
„Genug der Pause. Wir sollten unauffällig und am besten in den Seitenstraßen und Gassen nach dem Rechten sehen gehen. Ich hoffe sehr darauf, dass sich schon heute Nacht etwas ergibt und wir mehr über den Dämon rausfinden können."
Er wollte was? Wollte er jetzt nicht darüber sprechen, was das gerade zwischen uns war?! Hatte ich mir das eben eingebildet?! War er mir nicht zumindest eine Erklärung schuldig? Gefühlschaos ausbreitend, erhob auch ich mich und stand ihm nun gegenüber. Gerade als ich zum Sprechen ansetzen wollte, streckte er mir seinen kleinen rechten Finger entgegen. Unser Schwur. Mit dem eingehakten kleinen Finger hatten wir uns immer versprochen, auf uns selbst achtzugeben und den anderen unverzüglich Bescheid zu geben, wenn wir in Schwierigkeiten waren.
„Pass auf dich auf, Kaori", begann er unseren Schwur, wobei ich wie ferngesteuert meinen kleinen Finger mit seinem verhakte, „ich nehme mir den nördlichen Teil vor und du den südlichen. Morgen früh treffen wir uns wieder zusammen mit den Jungs in dem Glyzinien-Haus. Wenn dir etwas auffällt oder du in Schwierigkeiten gerätst, schick mir deine Krähe!"
Meine ... Krähe? Was war denn jetzt bitte los?! Ich wartete immer noch heißblütig auf seine Erklärung und jetzt kam er mir mit meiner Krähe um die Ecke, die mich bei meinem Austritt aus dem Korps verlassen musste? Ich hatte doch somit keine mehr. Diesen Blick hatte sich Tengen dann doch zu Herzen genommen und erklärte.
„Azami kreist bereits seit unserer Ankunft hier über uns. Sie ist auf dieser Mission wieder an deiner Seite. Also sollte dir etwas komisch vorkommen oder dir etwas zustoßen, lass es mich wissen. Ich bin umgehend bei dir, klar?"
„Oh", erwiderte ich zwar verstanden, blickte hinauf zu meinem schwarzen Raben, stand aber immer noch mitten im Regen. Im Gedankenregen, der nicht abreißen wollte. Das waren gerade zwei Ereignisse, die ich nicht gänzlich verarbeiten konnte.
„Und vergiss nicht, Kaori. Ich will dich lebend wieder in die Arme schließen können. Ist das klar?", zwinkerte er mir zu und beendete somit unseren Schwur und damit auch unsere Finger.
Ich nickte stumm. Normalerweise hätte auch ich ihm diesen Satz entgegengebracht. Um genau zu sein, hatte er ihn kurzum von mir ergaunert und kam mir zuvor. Aber gerade konnte ich eh nicht wirklich klar denken. Das ließ Tengen auch weiterhin unkommentiert und war mit einem Satz über die Dächer hinweg gehechtet.
„Oh man", verließ mein Mund konfus, während ich in die Richtung Tengen's blickte, der schon längst über alle Berge war. Oder besser gesagt Dächer.
„Was war das bitte? Warum kam er mir auf einmal so nah...?", fragte ich mich selbst.
Langsam strich ich mit meinen Fingern sanft über meinen geküssten Mundwinkel. Ein paar Zentimeter versetzt und es wäre zu einem flüchtigen Kuss gekommen. Zwischen Tengen und mir. Eine Liebkosung, die ich nicht wollte, sich aber dennoch prickelnd angefühlt hätte. Nichtsdestotrotz fühlte sich das falsch an. Falsch gegenüber Giyu. Leer starrte ich in die Ferne südlicher Gegend, in die ich gleich aufbrechen wollte, um nach dem Rechten zusehen. Wieso hatte ich also dieses schlechte Gewissen gegenüber der Wassersäule? Für ihn war ich nichts weiter als ein Dämon, den er, wenn er gekonnt hätte, umgebracht hätte... Im Grunde genommen hatte ich auch nichts Falsches gemacht. Ich hatte nicht fremd geküsst. Ich war Single und ihm somit sowieso keine Rechenschaft schuldig. Eigentlich... Dennoch blieb ich ihm treu und fühlte mich schäbig ihm gegenüber. Azami's Flügelschläge wurden von Sekunde zu Sekunde lauter und schon landete meine Krähe unsanft auf meiner Schulter.
„Krah ... Tengen liebt dich ... Krah!", krächzte sie spöttisch.
Gott, wie ich dieses Geflügel so gar nicht vermisst hatte.
„Ach, halt den Schnabel... Was weißt du denn schon, du blödes Vieh?!", beklagte ich mich verärgert und verscheuchte sie kurzum mit einer Handbewegung. Somit kreiste sie wieder über mir. Mit den selbigen Worten und ihrem krähenden Gegacker. Keine Frage, ich schätzte mich sehr glücklich darüber, dass ich sie wieder an meiner Seite wissen durfte – zumindest für diese Mission. Aber manchmal hätte ich ihr den Grotzen umdrehen können. Sie hatte ein Talent dafür immer in den falschen Momenten zu stören oder mich gar zu verspotten. Jedoch wenn es darauf ankam, unterstützte sie mich wie keine andere. Es war ganz klar eine Hassliebe.

Nachdem ich mich einigermaßen wieder gesammelt hatte, hatte auch ich mich auf meine intensivere Patrouille begeben. Ich hatte den sicheren Platz auf den Dächern verlassen und streifte durch die Seitenstraßen und Gassen des Freudenviertels. Um nicht gleich mit meinem dämonischen Aussehen in die Türe zu fallen, hatte ich mir die Kapuze meiner Kirschblüten-Haori so tief ins Gesicht gezogen, wie es möglich war, ich aber dennoch vorausschauend sehen konnte. Die Gassen waren dunkler beleuchtet, als das Hauptgeschehen des Viertels, was mir wiederum einen deutlichen Vorteil verschaffen konnte. Wäre auch ziemlich blöd gewesen, wenn man vorsätzlich mich als den gesuchten Dämon beschuldigt hätte.
Zu meinem vorübergehenden gefährlichen Lebensstil hatte ich erstaunlich Glück gehabt, dass mir nur wenige Passanten entgegengekommen waren. Denn mit jemandem zu sprechen, erwies sich genauso wenig schlau, da sie sonst von meinen Fangzähnen unglücklicherweise überrascht worden wären. Wobei es überwiegend Männer gewesen waren, die schon ordentlich und auch eindeutig viel zu lange die Tiefe des Glases betrachtet hatten. Die stechende Alkoholfahne hingegen war noch das kleinere Übel, hingegen den Anzüglichkeiten gen meiner Richtung. Gott sei Dank blieben sie mir dennoch weit genug auf respektablen Abstand, sodass es zu keinen unangenehmen und verräterischen Zwischenfällen kam.
Alles war im vollen Gange.
Lautes Gelächter und verschiedene Gespräche hallten durch die offenen Fenster hindurch. Allesamt in die Richtung des Vergnügens. Ich vernahm keinerlei negative, ängstliche oder dunkle Auren wahr. Der Dämon versteckte sich geschickter, als ich zunächst annahm. Das konnte doch nur ein zunehmender Mond gewesen sein. Wenn ich Tengen richtig verfolgt hatte, musste es sich um die zunehmende Vier gehandelt haben. Muichiro und Mitsuri hatten im Messerschmiededorf gegen zunehmende Monde fünf und vier gekämpft und diese auch erfolgreich getötet. Das hieße ja, dass unser mutmaßlicher jetziger Dämonenmond von der Sechs auf die Vier vorgerückt sein müsste. Kyojuro hatte sein Leben gegen die zunehmende Drei verloren. Von Shinobu hatten wir damals erfahren, dass ihre Schwester Kanae gegen die zunehmende Zwei gekämpft, aber ebenso ihr Leben lassen musste. Die zunehmende Eins hatte sich bisher nicht einmal blicken oder von ihr hören lassen. Und dann kam Muzan. Der König unter seinen Untertanen. Was, wenn wir hier nicht auf zunehmende Vier, sondern auf zunehmende Eins treffen würden? Oder zwei oder drei? Das wäre doch grandios gewesen, oder? Ich hätte richtig Lust darauf gehabt, denen eins über die Rübe zu ziehen, alleine schon Kyojuro und Kanae zu rächen. Verdient hatten sie es auf alle Fälle. Innerlich freute ich mich darauf, aber es ließ mich auch ehrfürchtig darüber nachdenken. Ich sollte sie keinesfalls unterschätzen. Das war töricht und unreif.
Kyojuro als auch Kanae waren furchtlose und hervorragende Säulen unter uns. Sie hatten trotz ihrer unglaublichen Stärke und Geschicklichkeiten ihr Leben lassen müssen. Das hatte ich nicht derartig leicht auf die Schulter nehmen und sie damit herabstufen dürfen. Schon gar nicht, wo ich mir bloß nur beim Gedanken wortwörtlich in die Hose geschissen hätte.

Das Viertel war mehr als groß. Größer, als ich es auf den ersten Blick vernommen hatte. Es glich schon mehr einer größeren Stadt als bloß nur einem Viertel. Demnach hatte auch die komplette Nacht zur Gänze herhalten müssen, um auch gefühlt jeden Winkel abgesucht zu bekommen. Zumindest für meinen zugewiesenen südlichen Teil. Solch eine ausführliche Nachtwanderung hatte ich zuletzt zu meinen Jägerzeiten unternommen, aber ich hatte meinen Spaß dabei. Auch wenn es mehr oder weniger zu keinen besonderen Ereignissen kam. Jedenfalls in Bezug auf den Dämon.
Die letzten Gäste verließen bei morgendlichen Sonnenstrahlen das Viertel und es schien in seinen wohlverdienten Schlaf gefallen zu sein. Sicherlich waren nicht alle in ihre umgekehrte Nachtruhe gegangen, denn für wenige hieß es nun alles sauberzumachen und zu putzen. Aber es schien alles auf den ersten Blick zu ruhen. So verließ auch ich meinen sicheren Platz auf den Dächern, den ich wieder eingenommen hatte und steuerte das Glyzinien-Haus an, welches wir unseren Treffpunkt ernannt hatten, um uns über den Anfang unserer Mission auszutauschen. Zu meinem Erstaunen war ich sogar die Erste von uns.
Kaum hatte ich mich auf eines der Kissen niedergelassen, wehte erneut der Vorhang auf. Hoffentlich Tengen! Ich musste einfach nochmal mit ihm über gestern sprechen! Wiedererwarten kam aber Tanjiro herein, der noch recht fit aussah, dafür, dass er sicherlich schon mehr als vierundzwanzig Stunden auf den Beinen war.
„Guten Morgen, Tanjiro", begrüßte ich ihn gewissenhaft.
Er schien sich im ersten Moment erschrocken zu haben, ehe er sich gefasst zu mir umsah und auch begann zu lächeln.
„Oh, guten Morgen, Kaori. Bist du schon lange hier?", fragte er verlegen und kratzte sich am Kopf.
„Nein, ich habe mich eben erst hierher gemacht. Konntest du dich unbemerkt rausschleichen?"
Er nickte zuversichtlich, „ja, keiner hat mitbekommen, dass ich das Haus verlassen habe."
„Sehr gut", merkte ich zufrieden an, „erzähl mir. Wie war deine Nacht?"
Tanjiro setzte sich vor mir auf den Sitzplatz und platzierte seine Beine in den Schneidersitz.
„An sich war sie ganz gut. Ich konnte vieles im Haus helfen, was mir einen Vorteil verschafft hat, die Räume flüchtig unter die Lupe nehmen zu können. Aber Informationen oder Neues in Bezug auf den Dämon habe ich leider nicht. Keine Spur von ihm", bedauerte er.
„Das hatte ich schon fast befürchtet. Das wäre auch viel zu einfach gewesen, dass wir ihm in der ersten Nacht begegnet wären."
„Leider ja, aber ich hätte es mir gewünscht."
Seine Entschlossenheit zauberte mir kurzum ein Lächeln auf die Lippen.
„Bei mir draußen war es genauso viel zu ruhig. Tengen patrouillierte im Norden und ich hingegen im Süden. Mir ist leider auch nichts Großes aufgefallen. Vielleicht haben ja die anderen ein wenig mehr Glück", versetzte ich meine Hoffnung auf die letzten drei noch nicht anwesenden, „sag, Tanjiro, ist deine Maskerade aufgeflogen?"
Er schüttelte den Kopf, „nein, ich denke nicht. Zumindest wurde ich nicht darauf angesprochen. Kurz nachdem ich im Haus angenommen wurde, hatte mich die Hausherrin abgeschminkt und sich zutiefst über meine Narbe an der Stirn erzürnt. Mich aber weiterhin als ein Mädchen abgetan."
Makellose Schönheit. Ein Hab und Gut, welches hier sehr erwünscht oder gar schon als Voraussetzung galt. Dabei waren es doch eben genau jene Körperzeichnungen, die eine Menge interessante Geschichten zu erzählen hatten und jeden einzelnen von uns zu einer Einzigartigkeit ausgemacht hatten.
„Woher hast du sie, wenn ich fragen darf?"
„Oh, aber natürlich, die habe ich mir zugezogen, als ich meinen Bruder vor einem Kessel mit heißem Wasser gerettet habe."
Also war das etwa kein Mal? Seltsam. Ich hätte darauf wetten können, dass es sich nicht nur bloß um eine unbedeutsame Narbe gehandelt hatte.
„Sehr mutig von dir", merkte ich beneidend an.
Diese kurze Szenerie in meinem Kopf erinnerte mich unweigerlich an Kaoru. Er war auch umgehend zur Stelle, wenn ich kurz davor gewesen war, mich zu verletzen. Hatte ich es doch erfolgreich geschafft, mir wehgetan zu haben, hatte er mich immer wieder aufs Neue liebevoll getadelt und mich darauf hingewiesen, auf mich aufzupassen. Ein süßlicher Schmerz der Geschwisterliebe nahm mich kurzzeitig ein, ehe ich mich wieder auf Tanjiro konzentrierte.
„Konntest du etwas von Tengen's Frauen in Erfahrung bringen?"
Puh, nochmal Glück gehabt. Hoffte ich doch, dass er nicht sofort was davon mitbekam, welch Gedanken mich eingenommen hatten. Gerade war ich nicht sonderlich in Stimmung gewesen, über meine verletzlichen Gefühle in Bezug auf meinen Bruder sprechen zu wollen.
„Nicht sehr viel, aber die Mädchen haben über den Ausstieg Suma's gerätselt. Sie sei erst kürzlich ausgestiegen und spurlos verschwunden, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Allerdings hat man auch ein Tagebuch angesprochen, welches sie hinterlassen hat."
Ein Tagebuch? Von Suma? Für gewöhnlich hatte sie sich nie hinter eines gesetzt und schrieb ihren Tag nieder.
„Das ist sehr untypisch für sie. Suma schrieb nie Tagebücher. Entweder hat sie das bewusst gemacht oder aber-"
„Es ist gefälscht", beendete Tanjiro meine Vermutung, woraufhin ich bestätigend nickte. Meine Neugierde darauf wuchs darauf brennend. Hatten sich darin vielleicht Informationen über den Dämon befunden?
„Tanjiro... Kommst du an das Buch?"
Seine Augen weiteten sich minimal. Mit solch einer Forderung hatte er nicht gerechnet.
„I-ich werde mich darum bemühen. Das dürfte vielleicht auch gehen", grübelte er und legte dabei seine Finger an sein Kinn, „ich habe mich als ihre kleine Schwester ausgegeben."
„Kein schlechter Plan,", merkte ich grinsend an, „aber nur wenn du es schaffst! Ich möchte unter keinen Umständen, dass du in Schwierigkeiten kommst oder du gar auffliegst, hörst du?"
Er zögerte für einen kurzen Moment, „natürlich. Ich werde mein Bestes geben."
Er schien mir wahrlich darauf bedacht, seine Aufgabe pflichtbewusst zu erledigen. Genauso, wie ich ihn zu Beginn eingeschätzt hatte.
„Du hast dir die Briefe zu Herzen genommen, die Tengen von ihnen erhalten hat."
„Das habe ich. Ich möchte, dass wir Tengen's Frauen befreien und den Dämon erledigen!"
„Ich auch. Aber Tanjiro", begann ich eindringlich, „keine Alleingänge! Solltest du auf den Dämon treffen, schick uns umgehend deine Krähe. Das Viertel ist doch größer als angenommen und wenn es sich um einen zunehmenden Mond handelt, möchte ich nicht, dass dir etwas zustößt. Wir sind nun mal als Säulen hier, um uns diesen Dämon anzunehmen, also bitte sei vorsichtig."
Seine weinroten Augen durchbohrten mich, ehe er verstanden nickte. Nach wie vor waren Zenitsu, Inosuke und Tengen noch nicht eingetroffen, weshalb ich es mir nicht länger verbot, meine Neugierde in Zaum zu halten. Schließlich wollte ich unsere neuen Truppenmitglieder ein wenig besser kennenlernen.
„Sag mal, Tanjiro, auf welchem Rang seid ihr?"
„Wir sind vom Rang Kanoe. Könnte das der Grund sein, weshalb uns Tengen nicht vertraut? Mit dir geht er völlig anders um, als mit uns."
... Das kam unerwartet. Jetzt war ich diejenige, die ihn mit großen Augen ansah. Er ging völlig anders mit mir um... Sicherlich wegen gestern Abend, oder?
„Das liegt nicht an euren Rängen, sondern lediglich darin, dass man Tengen vorrangig beweisen muss, was man drauf hat. Ich wurde von ihm als sein Tsuguko ausgebildet. Was meinst du, wie er zu mir war?"
Ich schmunzelte verschmitzt, mitunter auch, um ihm nicht die Hoffnung zu nehmen.
„Du warst sein Tsuguko?", staunte er nicht schlecht, „das war doch bestimmt nicht einfach, wie du es gerade angeschnitten hast, oder?"
„Ja, das war ich. Und ich kann dir sagen, dass das alles andere als leicht war. Nicht nur, dass es sehr schwer ist, ihn von sich zu überzeugen, nein, auch sein Training und Unterricht waren steinig und unnachgiebig. Am Anfang meiner Jägerzeit schien er mich regelrecht gehasst zu haben. Er hat mich durch die Hölle gejagt. Jeden Morgen hat er mich zu Sonnenaufgang aus dem Bett gerissen und mich nach einem stärkenden Frühstück auf den Trainingsplatz gezerrt. Es war ihm völlig gleich, wie fertig und verdroschen ich vom Vortag war. Er zog sein Programm durch. Ohne Gnade, aber mit einigen Pausen. Lob war eine Seltenheit, hingegen Kritik an der Tagesordnung. Er war hart. Er nahm mich auf jede seiner Mission mit und überließ mir den Vortritt. Egal, um wie viele Dämonen es sich gehandelt hatte oder wie stark sie waren. Ich durfte antreten, ob ich wollte oder nicht. Aber wenn es darauf ankam, stand er immer wie ein schützender Löwe vor mir und hatte mein Leben beschützt. Das klingt jetzt ziemlich unmenschlich, was es auch in gewissermaßen war, aber mit jedem Rang, den ich nebenbei im Galopp erklommen hatte, wurde er auch sanfter zu mir. In den Trainingskämpfen begegnete ich ihm immer mehr auf Augenhöhe und er begann mich endlich anzuerkennen. Ich war nicht mehr bloß seine Schülerin, die er nach Lust und Laune durch die Hölle schickte, sondern eine ernstzunehmende Kämpferin, auf die er sich allmählich verlassen konnte. Das erklärt auch, warum er euch gegenüber so schroff ist und zu mir eine besondere Bindung pflegt. Lass dich davon also nicht abbringen oder entmutigen. Sei lieber froh darum, dass er nicht dein Meister ist."
Tanjiro schaute mich sprachlos wie entsetzt an und nickte geistesgegenwärtig.
„Um ehrlich zu sein, bin ich auch gerade ganz froh darum, dass wir es nicht sind, nachdem, was ich gerade erfahren habe."
„Seid ihr jemandes Tsuguko?"
„Leider nicht. Wir wären es um ein Haar von Kyojuro geworden, jedoch ist er bei unserer gemeinsamen Mission seinen Verletzungen erlegen."
„Auf eurer gemeinsamen Mission?", entfleuchte es mir fassungslos, „du hast also Kyojuro kennengelernt und habt Seite an Seite gekämpft?"
Selbst wenn ich es gewollt hätte, aber diese übermannende Gefühle konnte ich beim besten Willen nicht verstecken. Zudem erwähnte er gerade, dass dabei Kyojuro gestorben war? Wer war dieser Tanjiro wirklich?!
„Ja, das haben wir. Zenitsu sowie Inosuke und ich. Wir drei durften an seiner Seite kämpfen. Wir haben zunächst die abnehmende Eins besiegt, die den Mugen-Zug für sich beansprucht hatte und versuchte unzählige Menschen zu verspeisen. Nachdem wir das erfolgreich erledigt hatten, wurden wir von der zunehmenden Drei überrascht. Nach einem überaus mächtigen und langanhaltenden Kampf konnte der Dämon aber Kyojuro bezwingen und konnte im letzten Augenblick der Sonne entkommen."
Abnehmende Eins?! Zunehmende Drei? Was bitte war das für eine grauenvolle Nacht gewesen? Welch hinterlistige Aktion war das gewesen? Kein Wunder, warum ich Dämonen auch verabscheut hatte.
„So ist also Kyojuro gestorben... Ich wünschte, es hätte einen anderen Ausgang gehabt... Er war so liebevoll und aufrichtig gewesen. Ich habe ihn echt gerne gehabt... Und du sagtest eben die abnehmende Eins...", dachte ich laut nach, „Enmu ist also ebenso Tod? Das bedauere ich ehrlich gesagt genauso, aber es stimmt mich auch gleichermaßen zufrieden."
Verblüfft musterte mich Tanjiro von oben bis unten.
„Wieso bedauern? Ich möchte dir nicht zu Nahe treten, aber schließlich ist es ein Dämon gewesen, der viele Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Ich möchte dich auch nicht dafür verurteilen, denn ich habe auch teilweise Mitgefühl für sie, denn sie waren auch mal Menschen und wurden nicht einfach so zu einem menschenfressenden Dämon."
Welch weiser Junge... Überrascht legte ich meinen Kopf schief.
„Eine durchaus erwachsene Ansicht, Tanjiro. Ich bin derselben Meinung, dass es einen großen Grund für ihre derartige Wesensveränderung geben muss und sie deswegen zu einem blutrünstigen Dämon wurden. Immerhin bin ich auch einer, aber jener, der keine Menschen angeht, weil ich sie weiterhin beschützen möchte. Und auch, weil ich nicht schlecht behandelt wurde oder gar ein negatives Ereignis erlebt habe. Nicht so wie bei Enmu, um nochmal auf das Thema zurückzukommen. Ich habe von einer damaligen Säule, die ihr Amt aus gesundheitlichen Gründen und Höhe des Alters niedergelegt hatte, die Hintergrundgeschichte von Enmu erfahren. Und was soll ich sagen? Ihn hatte es zu seinen Lebzeiten sehr schlimm erwischt. Enmu trägt die Bedeutung Albtraum und was dieser Junge erfahren hat, war auch der pure Albtraum schlechthin. Seine wohlhabenden Eltern, die beide Ärzte waren, wurden von einer Schlägerbande heimgesucht und diese haben immer wieder nach Geld gefragt. Heimlich, um Enmu zu schützen, kamen sie diesen Forderungen immer wieder nach, bis sie nun mal kein Geld mehr auftreiben konnten und so begann die Tortur für die ganze Familie. Die Schlägerbande drohten damit, Enmu etwas anzutun, wenn sie den Forderungen weiterhin nicht nachkommen würden, also verprügelten sie die Eltern regelmäßig, bis auf eines Abends. Die Eltern wurden wieder von denen heimgesucht, nur diesmal bekam es auch Enmu mit. Zusammen mit ihm wurden die Eltern gefesselt und in einen nahegelegenen Wald verschleppt. Vor den Augen Enmu's wurden sie geschlagen und schikaniert. Schließlich wurden sie von der Bande an das Gleisbett des Mugen-Zugs befestigt, wohingegen Enmu am Baum gefesselt wurde und ja, was soll ich dir sagen... Den Rest kannst du dir gewiss selbst ausmalen... Er musste natürlich alles mitansehen und er hatte eine wahnsinnig starke und liebevolle Bindung zu seinen Eltern gepflegt. Das war aber noch nicht alles, sondern erst der Anfang. Die Schlägerbande hatte sich dann Enmu vorgenommen. Ihn schikaniert, drangsaliert, vergewaltigt und ihm multiple Knochenbrüche zugezogen. Als sie von ihm abließen, hatte er sich mit seiner letzten verbliebenen Kraft wieder zurück ins Dorf schleppen können. Die Dorfbewohner jedoch hatten ihn alle, aber ausnahmslos alle gehasst. Für seine Schwäche und sein mädchenhaftes Aussehen. Er wurde von Bewohner zu Bewohner regelrecht rumgereicht und man hat selbiges mit ihm Tag für Tag durchgezogen, wie die Schlägerbande. Und nein, das war noch nicht der Höhepunkt, denn zu allem, was er ohnehin schon erlebt hatte, wurde das Dorf von einem Dämon angegriffen. Enmu, in dieser verhängnisvollen Nacht, vorrangig und wurde von diesem lebensbedrohlich verletzt. Gerettet wurde er aber tatsächlich von Muzan. Also, was heißt gerettet. Er hat ihn schlussendlich selbst in einen Dämon verwandelt, allerdings mit der Voraussetzung, dass er all seine Erinnerungen verlieren wird und somit auch sein ganzes Leid ein Ende fand."
Mit heruntergelassenem und niedergeschlagenem Blick hatte Tanjiro die ganze Zeit über zugehört, ehe er etwas erwiderte.
„Das klingt wirklich sehr hart... ich habe jetzt schon einige Dämonen bekämpft und schon so manches Leid von ihnen erfahren, aber dieses. Das tut mir ja selbst beim Zuhören weh."
„Mir tatsächlich auch. Ich verheiße keinen Dämon gut oder möchte das rechtfertigen, dennoch bin und bleibe ich der Meinung, dass man es bei Enmu durchaus nachvollziehen konnte, warum er derart eiskalt Menschen getötet und gar aufgefressen hat. Nein, es ist nicht gut und es ist auch falsch, aber seinen Hintergrund zu kennen, lässt anders auf ihn blicken, auch wenn er seine Erinnerungen daran verloren hat. Es ist aber ein tiefer Anker, den man ihm da zugesetzt hat und das vergisst man nicht. Auch nicht im schlummernden Unterbewusstsein. Ich bin froh darum, dass er endlich seinen Frieden gefunden und wieder bei seinen Eltern ist. Wobei ich ihn schon gerne gerettet und ihm gezeigt hätte, dass es auch anders geht."
„Genauso wie bei meiner Schwester Nezuko", verglich Tanjiro sinnierend.
Seine Schwester? War also auch eine Dämonin?
„Wie deine Schwester? Ist Nezuko etwa auch ein Dämon?"
„Ja, ist sie. Leider. Aber genauso wie wir gerade darüber gesprochen haben. Nezuko war schon immer ein liebes Mädchen und greift genauso wenig wie du keine Menschen an. Nezuko ist immer noch sie selbst und meine liebende Schwester. Wir lebten im tiefen Wald. Also meine fünf Geschwister und meine Mutter. Mein Vater weilte nicht mehr unter uns, da er zuvor an seiner Krankheit erlegen war. Es war im tiefen Winter. Ich brach auf, um Kohle im nahegelegenen Dorf zu verkaufen, was mich doch den ganzen Tag in Anspruch genommen hatte. Ich brach in der Abenddämmerung auf, um nach Hause zu gehen, da wurde ich aber auf halbem Weg von einem Bekannten aufgehalten, der mich davon abhielt, weiterzulaufen. Es wäre zu gefährlich gewesen, denn nachts trieben Dämonen ihr Unwesen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich weder an sie geglaubt noch was von ihnen gehört und hielt es für Humbug. Dennoch konnte ich sein Angebot oder besser gesagt Aufforderung nicht ausschlagen und blieb bei ihm. Morgens brach ich dann auf, um nach Hause zugehen. Kaum hatte ich das Haus erreicht, roch ich auch schon eine immens große Menge an Blut und ich bekam ein furchteinflößendes Gefühl im Bauch. Meine schlimmste Befürchtung trat ein und ich bekam meine Familie in der größten Blutlache dargeboten, wie man es sich nicht mal seinem schlimmsten Feind wünschte. Alle waren aufs brutalste abgeschlachtet. Bis auf Nezuko. Sie war die Einzige, die noch am Leben war und lag beschützend auf meinem jüngsten Bruder. Leider vergebens. Also hievte ich sie mir schnell auf den Rücken und machte mich eilig wieder zurück zum Dorf, um sie dort schnellstmöglich zu einem Arzt zubringen, der sie hätte untersuchen sollen. Jedoch kamen wir aber nicht so weit. Währenddessen hatte sich Nezuko vollständig in einen Dämon verwandelt und war bereit, mich anzugreifen. Wir fielen einen mittelhohen Abhang hinab in den Schnee, wobei uns glücklicherweise nichts Ernstzunehmendes passiert ist. Erst da sah ich, dass sie sich äußerlich verändert hat. Auch ihr Wesen. Sie schien verwirrt, war aggressiv und ungehalten und das bekam ich auch zu spüren. Sie hatte sich regelrecht auf mich gestürzt und versuchte mich zu beißen. Ich hatte große Mühe, sie im Zaum zuhalten. Ich sprach auf sie ein, dass sie das nicht tun solle und drang im letzten Moment zu ihr durch, ehe wir von niemand Geringeres als Giyu Tomioka unterbrochen wurden, der versuchte Nezuko zu töten."
Giyu?! Mir lief es eiskalt den Rücken runter.
„Von der Wassersäule Giyu?", vergewisserte ich mich. In der winzig kleinen Hoffnung, dass er einen anderen Giyu gemeint haben könnte, jedoch Fehlanzeige. Tanjiro nickte bestätigend.
„Ich bat ihn eindringlich darum, dass er meine Schwester nicht töten solle und dass ich einen Weg finden werde, sie wieder zurückzuverwandeln. Doch er war ganz anderer Meinung. Er ließ von seinem Vorhaben nicht ab, weil er mitunter im Glauben war, dass Nezuko diejenige war, die meine Familie ausgelöscht habe. Aber sowas würde Nezuko niemals tun. Dafür war sie viel zu brav und liebend. Ich habe meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sie das nicht war. Mitunter auch, weil ich noch einen anderen, fremden Geruch zuhause wahrgenommen hatte."
Das nannte ich mal eine Punktladung. Mitten in mein Erstaunen.
„Ließ er von deiner Schwester ab? Lebt sie noch? Wie ging es weiter? Welchen Geruch hast du noch vernommen?"
Ich ließ meinem Erstaunen freien Lauf. Ich war derartig überwältigt von diesen Geschehnissen, dass ich vollkommen außer Acht ließ, dass ich ihn mit meinen Fragen vermeintlich auch verletzen konnte.
„Giyu verletzte Nezuko lediglich. Ich hatte versucht, ihn anzugreifen, mit meiner Axt, die ich noch dabei hatte, aber was konnte ich schon ausrichten? Zu diesem Zeitpunkt, also vor knapp drei Jahren, war ich noch kein Jäger, geschweige denn wusste ich überhaupt was von der Existenz eines Dämons. Ich bin heute noch dankbar dafür, dass er meine Schwester nicht umgebracht hat – ja, sie ist noch am Leben und jeden Tag bei mir. In meiner Holzkiste, die ich immer bei mir trage", liebevoll strich er über die hölzerne Kiste, ehe er weiter erklärte, „den Geruch, den ich bei mir Zuhause wahrgenommen hatte, war der von Muzan Kibutsuji. Darüber bin ich mir mehr als sicher, da ich diesen nach diesem üblen Angriff wieder begegnet war und ich seinen Geruch wiedererkannt hatte."
Er war also bereits auch Muzan begegnet?! Diese Ratte! Dieser Wicht war überall und nirgendwo – das machte mich allmählich wahnsinnig. Meine Rachegelüste wuchsen indes ins Unermessliche. Ich wollte ihn endlich in die Finger bekommen. Er hatte mit seinem Leben zu bezahlen, wenn er meines schon derartig zerstört hatte. Nicht nur das meines, sondern für all die anderen Unschuldigen, die er auf seinen dreckigen Schultern mit sich trug. Ich schüttelte fassungslos den Kopf und ging gedanklich nochmal Tanjiro's Worte durch. Somit lag ich mit meiner halben Vermutung über seine Holzkiste halbwegs richtig. Es befand sich eine Person darin. War nur noch die Frage, wie alt seine Schwester war. Und dass sie auch eine Dämonin war, überraschte mich enorm. Wusste Tengen davon?! Wenn ja, wieso hatte er mir das verschwiegen? Und warum in Gottes Namen hat Giyu sie nicht umgebracht?! Laut Tanjiro war ihr Aufeinandertreffen mit meinem ehemaligen Geliebten kurz nachdem ich vertrieben wurde und das eben aus selbigen Grund, was Nezuko nun war. Ich runzelte die Stirn, unterbrach ihn aber nicht und hörte weiter zu.
„Giyu hat uns verschont und hatte uns zur ehemaligen Wassersäule Urokodaki Sakonji geschickt. Dort wurde ich von ihm in der Wasseratmung gelehrt und lernte auch überhaupt alles Rund um das Thema Dämonen und wurde auch zur Auswahlprüfung geschickt, die ich erfolgreich absolviert hatte. Währenddessen hatte Nezuko bei Herrn Urokodaki friedlich geschlafen. Ganze zwei Jahre. Wir haben sie mehrmals von einem Arzt untersuchen lassen, weil sie nicht aufgewacht war. Aber es geht ihr bestens", erfreute er sich abermals erleichtert.
Seine Schwester schien ihm sehr bedeutsam. Das erinnerte mich an Kaoru. Er war mir zur damaligen Zeit auch sehr wichtig. Wirklich schade, dass er nicht mehr er selbst war. Wie wohl unsere jetzige Beziehung zueinander ausgesehen hätte?
„Wie reagieren eigentlich die anderen Jäger auf Nezuko?", fragte ich wohl wissend, dass es mich gleich verletzen könnte.
„Gemischt", gab er ehrlich zu, „sie war anfangs nicht akzeptiert worden. Die anderen Säulen, wie etwa Sanemi, Obanai, Tengen und auch Kyojuro wollten Nezuko töten. Allgemein waren alle gegen sie und die Gemüter ziemlich erhitzt. Als der Meister zu diesem Treffen hinzukam und einen Brief von Herrn Urokodaki vorlas, konnte man sie zwar nicht umstimmen, aber zumindest ruhig stellen."
Er spannte mich aber auch auf die Folter, dieser Junge.
„Und was stand drin?"
„Dass wenn Nezuko jemals einen Menschen verletzen oder auch nur töten sollte, Herr Urokodaki und Giyu mit ihrem Leben dafür bezahlen werden."
... ?!
Giyu würde also... Mit seinem Leben... Dafür einstehen?! Dafür, dass ein Dämon Menschen verletzte oder tötete? Ich schluckte unheimlich schwer. Verstohlen als auch ernst schaute ich in Tanjiro's ehrliches Gesicht. Giyu würde sich also umbringen lassen, wenn Nezuko jemandem etwas zu leide tun würde? Wohingegen er mich vollends aus seinem Leben verbannt hatte? Die Luft zum Einatmen wurde dicker und ich hatte alle Mühe, überhaupt ruhig weiterzuatmen. Das war ein knallharter Schlag ins Gesicht. Er kannte dieses Mädchen nicht und konnte auch überhaupt nicht einschätzen, wie sie tickte. Mich hatte er geliebt, Jahre zuvor kennengelernt und wusste über das noch so kleinste Geheimnis von mir Bescheid und stieß mich ohne Reue oder Schmerz von sich weg?! Was hatte ich ihm getan, dass er zu solch einem Entschluss kam?
„Das ist wahrhaftig selbstlos", begann ich emotionslos, „so kannte ich Giyu. Er hatte sich sehr oft für andere eingesetzt, aber für einen Dämon? Das war mir bisher unbekannt."
Mich überfiel der Schmerz und die Enttäuschung binnen weniger Sekunden. Ich konnte nichts dagegen tun. Mich verachtete er?! Verabscheute mich?! Hasste mich?! Bat mich unschön darum, dass ich doch zu verschwinden hatte?! Um auf der anderen Seite einen anderen Dämon in die Ränge unseres Korps willkommen zu heißen? Dieses Arschloch!


🌸Kaori, die dämonische Säule // Demon Slayer FF🌸Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt