Kapitel 9/Verletzt und allein gelassen

6 2 3
                                    

Ich ging schnell Richtung WC. Die Angst, dass die drei Schlangen mich sehen könnten, fraß an mir. Sie hatten ein Messer in der Hand, und niemand war im Flur, um mir zu helfen, wenn etwas passierte.

Als ich auf dem Klo ankam, ließ die Angst kurz nach. Ich starrte in den Spiegel, weil  ich gar nicht auf Klo  musste. Plötzlich hörte ich, wie die Tür der Mädchentoilette aufging, doch ich wagte nicht, hinzuschauen.

Dann riss mir jemand die Kapuze herunter, und ich erstarrte. ,,Evelyn, warum versteckst du dein schönes, zerkratztes Gesicht? Hahaha," dieses Lachen... dieses grauenvolle Lachen von Chloe, es hallte in meinem Kopf wider. Jedes Mal, wenn sie lachte, erinnerte ich mich an den Moment, als sie und ihre Mitläufer mich das erste Mal schlugen und mir die erste Narbe ins Gesicht ritzten. Sie genoss jeden Moment daran, mich zu quälen.

Zoe zog das Messer heraus, bereit, mir neue Narben zuzufügen. Doch Chloe hielt sie auf: ,,Ach Zoe, lass das. Evelyn wird sich doch eh aufschlitzen lassen. Man sieht, wie sehr sie ihr Leben hasst. Hahaha."

Stella trat näher, betrachtete mein Gesicht und sagte zu Chloe: ,,Aber hier ist eine Stelle frei. Sie sieht so leer aus, so einsam wie ihr Leben. Fügen wir da nicht eine Narbe hinzu? Wir wollen ja nicht, dass diese Stelle einsam bleibt."
_____

Sie verließen den Raum, und ich blieb zurück, wie immer. Warmes Blut rann meine Wange hinunter, doch keine Träne fiel. Die Narbe tat nicht mehr weh. Ich fühlte mich leer und gefühllos, so wie immer.

Ich ging wieder in den Biologieraum. Als ich hereinkam, fragte mich der Lehrer: ,,So, Evelyn, du warst 20 Minuten auf der Toilette. Warum brauchst du so lange? Schwänzt du etwa den Unterricht?"

Alle Augen waren auf mich gerichtet und aus mir kam kein einziges Wort, doch dann tropfte Blut von meiner Kapuze.

Alle drehten sich wieder um und der Lehrer sagte: ,,Ähm, also... also... machen wir weiter mit dem Unterricht."

Jeder tat so, als wäre nichts passiert, obwohl sie alle genau wussten, was geschehen war, dass ich wieder geschlagen, oder besser gesagt, geschlitzt worden war. Niemand sagte etwas, niemand half mir. In ihren Augen war ich es nicht wert. Sie sahen mich als „arm", obwohl ich es nicht war. Für sie war es so einfach: Wer nicht reich war, war arm. Aber so war es nicht. Ihre Ignoranz und Gleichgültigkeit schmerzten viel mehr als die Schnitte.

_____

Ich schlich in die Bibliothek, in der Hoffnung, Theodore dort zu finden. Doch statt seiner Stimme hörte ich leises Weinen. Neugierig und mit wachsender Unruhe folgte ich dem Geräusch. In einer abgelegenen Ecke entdeckte ich das Mädchen, das mir vorhin im Flur begegnet war, als ich auf die Toilette gehen wollte. Ihre Verzweiflung spiegelte meine eigene wider, als hätte ich mein jüngeres Ich vor mir.

„Hey, möchtest du mir vielleicht erzählen, was vorhin passiert ist?" fragte ich, meine Stimme unbewusst dringlich.

„Sie... sie haben mich geschlagen," murmelte sie kaum hörbar.

„Oh, das ist schrecklich. Ich kann dir helfen, ich weiß zwar noch nicht wie, aber ich habe oder besser gesagt, mache ich dasselbe durch wie du," sagte ich schnell. Sie hob ihren Blick und fragte: „Trägst du deswegen die Kapuze?"

„Ja..." antwortete ich, erstaunt, wie schnell sie mich durchschaut hatte, während andere es jahrelang nicht bemerkt hatten.

Gerade als sie weiterreden wollte, tauchte Theodore plötzlich auf und das Mädchen verschwand hastig.

„Wer war das?" fragte Theodore und ich erwiderte: „Ein Mädchen... sie wird auch von anderen in der Schule misshandelt."

Sein Gesicht verzog sich vor Schock und Wut: „Oh... sie haben ein neues Opfer gefunden. Solche Bastarde!"

Ich sah ihn überrascht an, dann fiel sein Blick auf meine Kapuze: „Heute im Unterricht, als du von der Toilette kamst und Blut von deiner Kapuze tropfte, waren es wieder die?"

Ich nickte stumm und er fragte: „Wo haben sie dich verletzt? Wie haben sie dich verletzt?"

Meine Nervosität stieg, da ich noch nie jemanden davon erzählt hatte. Doch seine traurigen und wütenden Augen ließen mich die Wahrheit aussprechen: „Im Gesicht, und sie haben mich mit einem... Messer verletzt."

Er blieb erst einmal sprachlos. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Ich dachte immer, dass sie dich schlagen... aber nicht, dass sie dich mit einem Messer verletzen."

Ich schwieg, unfähig zu begreifen, dass ich ihm tatsächlich davon erzählt hatte. Ich war wohl zu naiv gewesen, ihm so schnell zu vertrauen, doch in seiner Nähe fühlte ich mich sicher und geborgen.

„Alles wird gut, Evelyn. Ich werde immer für dich da sein," sagte er und zog mich in seine Arme.

Die Art, wie er meinen Namen aussprach, war so sanft und herzlich. In seinen Armen fühlte ich mich warm und sicher. Er roch nach frischer Wäsche und Parfüm. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine muskulöse Brust und wir verharrten in dieser Position.

Eigentlich sollte ich glücklich sein, in Theodores Armen zu sein, doch mein Kopf war voll von Gedanken an das Mädchen, das das gleiche Leid durchmachte wie ich.

Wo war sie jetzt? Wer war sie? Warum taten sie ihr das an?

__________________________________

Was glaubt ihr, warum das Mädchen auch gemobbt wird? Und findet ihr, dass Evelyn Theodore vertrauen sollte?

Our SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt