Kapitel 10/ Der Verrat

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Ich musste die ganze Nacht an das Mädchen denken. Sie tat mir so leid, und ich wollte ihr helfen und ihr mehr Fragen stellen, doch sie verschwand, als Theodore kam. Wenn ich sie wiedersehe, muss ich mit ihr reden.

Ich ging zum Kleiderschrank und nahm mir einen dunkelblauen Pullover und eine passende Jogginghose heraus. Es war sozusagen ein Set.

Ich schaute mich noch einmal im Spiegel an, bevor mein Gesicht unter meiner Kapuze verschwand.

Als ich die Treppen hinunterging, hörte ich Stimmen und bemerkte, dass meine Eltern zu Hause waren. Es erfüllte mich mit Freude, sie zu sehen, da sie selten zu Hause sind. „Hallo Mama und Papa, wie geht es euch? Schön, dass ihr zuhause seid", sagte ich zu ihnen. Sie schenkten mir ein großes Lächeln, und meine Mutter sagte: „Uns geht es super, Maus. Wie geht es dir?"

„Mir geht es ebenfalls sehr gut", log ich wie immer.

„Ach Schatz, ich habe seit langer Zeit nicht mehr dein wunderschönes Gesicht gesehen...", sagte mein Vater traurig, und ich war sprachlos. Er hatte mich noch nie darauf angesprochen, und ich hatte mir auch nie Gedanken gemacht, was ich in so einer Situation sagen könnte.

„Du warst doch mehr als ein Jahr bei der Therapeutin. Sie meinte, dir geht es gut und du hast aufgehört, die Kapuze zu tragen, doch dann hast du sie irgendwann wieder aufgesetzt...", mein Vater hörte nicht auf zu reden und fügte hinzu: „Keiner wird dich mehr anfassen! Ich verspreche es dir."

Wenn er nur wüsste, warum ich die Kapuze trage. Er denkt, es ist das Ereignis von früher, als ich noch jünger war, aber nein, es ist etwas anderes, etwas Schlimmeres.

„Schatz, hör auf, sie zu drängen! Es ist ihre Entscheidung, und wenn sie sich noch nicht bereit fühlt, dann ist es eben so", schimpfte meine Mutter meinen Vater an.

Ich blieb stumm und fühlte die Worte in mir widerhallen. Mein Herz pochte heftig, und eine unbeschreibliche Hilflosigkeit überkam mich. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich mich um und ging aus dem Haus. Die frische Luft schlug mir entgegen, aber sie konnte die innere Enge in mir nicht vertreiben.

Mein Vater wollte mir Mut machen, doch er wusste den wahren Grund nicht und dachte, er wüsste es. Doch das tat er nicht. Er konnte nicht wissen, welche Dunkelheit ich in mir trug, die mich dazu zwang, die Kapuze immer wieder aufzusetzen.
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Ich saß wie immer hinten und neben Theodore. Wir hatten bis jetzt noch nicht richtig gesprochen, sondern uns nur angelächelt. Wir wollten es ja geheim halten, dass wir Freunde waren... oder vielleicht sogar mehr. Ich weiß es nicht...

Nick sah mich die ganze Zeit komisch an, und als der Lehrer kurz hinausging, um etwas zu kopieren, rief er laut in die Klasse und hauptsächlich zu mir: „Ach, wieso trägt Evelyn wohl immer die Kapuze und zeigt kein bisschen Haut? Wahrscheinlich, weil sie einfach hässlich ist."

Die ganze Klasse lachte und stimmte ihm zu. Doch dann fügte er etwas hinzu, das mich zutiefst unwohl fühlen ließ: „Aber ich würde sie schon gerne mal ohne den Pullover und die Jogginghose sehen. Nicht wahr, Theo?"

Ich schaute zu Theodore, weil ich wusste, dass ihm die Situation höchstwahrscheinlich unangenehm war. Doch zu meinem Entsetzen stimmte er Nick zu und lachte.

Ein stechender Schmerz durchfuhr mein Herz. Die Worte und das Lachen der anderen bohrten sich wie Messer in meine Seele. Die Erniedrigung und das Gefühl des Verrats waren überwältigend. Theodore, mein Vertrauter, mein Freund, hatte sich gegen mich gewandt.

Die Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit, während ich versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Meine Hände zitterten, und ich fühlte mich, als würde der Boden unter meinen Füßen verschwinden. Die kalten Blicke und hämischen Bemerkungen der Klasse waren unerträglich. Jeder Atemzug schien eine Qual zu sein, und ich fragte mich, wie ich diesen Albtraum überstehen sollte.


„Hör auf! Ich bin doch noch ein Kind", schreie ich und höre nicht auf zu weinen. Tränen strömen unaufhörlich über mein Gesicht, meine Stimme zittert vor Angst und Verzweiflung. Doch er bleibt ungerührt, kalt und unerbittlich. Langsam zieht er den Reißverschluss herunter und lässt seine Hose zu Boden gleiten.

Die Gedanken an früher kamen wieder in meinen Kopf. In diesem Moment fühlte ich mich einfach nur unwohl, neben Theodore zu sitzen. Ich schaute ihm nicht einmal in die Augen, weil ich einfach nur angewidert war. Ich war nicht sauer auf ihn, obwohl ich es gerne gewesen wäre. Ich war verletzt. Es fühlte sich an, als hätte mich jemand verraten.

Ich hatte ihm eines meiner größten Geheimnisse anvertraut und mich sogar in seiner Anwesenheit wohlgefühlt, doch jetzt bereute ich alles. Wieso war ich nur so naiv? Und ich dachte, jemand könnte mich mögen...

Diese Enttäuschung, diese unerträgliche Verletzung, bohrte sich tief in mein Herz. Es war, als ob ein dunkler Schatten über mir hing, der jede Hoffnung und jedes Vertrauen in Menschen erstickte. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und diesen Schmerz vermeiden. Aber jetzt saß ich hier, gebrochen und enttäuscht, und fragte mich, wie ich jemals wieder jemandem vertrauen könnte.

_____

Ich saß auf einem Sessel mitten in der Bibliothek und hoffte, dass das Mädchen zurückkommen würde. Als ich Schritte hörte, sprang ich auf, in der Hoffnung, dass es sie war, doch dann tauchte Theodore zwischen den Bücherregalen auf.

Er sah mich an, als wäre nichts passiert, und sagte: „Hey Evelyn, wie geht's?"

Ich starrte ihn nur verwirrt und zugleich wütend an. „‚Hey Evelyn, wie geht's?' ist das Einzige, was du mir sagen willst? Keine Entschuldigung?"

„Wofür sollte ich mich entschuldigen?", fragte er ungerührt.

„Das ist doch nicht dein Ernst! Du hast Nick im Unterricht zugestimmt und gelacht, als er so einen abartigen Spruch über mich gemacht hat."

„Evelyn, du weißt doch, dass ich nur so tue, damit es nicht so offensichtlich ist, dass wir Freunde sind."

Seine Worte trafen mich tiefer als jede physische Verletzung und er sieht mich nur als ,,Freundin"....Mit schnellen Schritten verließ ich die Bibliothek.

„Evelyn, warte doch", rief er mir hinterher, aber ich ignorierte es. Alles kam hoch, jede Erinnerung an ihn und all die Worte, die er mir gesagt hatte: „Ich werde dir helfen, versprochen."

Er hatte mich eiskalt belogen. Er half mir überhaupt nicht. Er schämte sich nur, dass andere herausfinden könnten, dass er mit mir sprach und dass wir uns gut verstanden...Nur weil er bei allen beliebt war, wollte er nicht mit jemandem wie „mir" gesehen werden.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich war sauer auf mich selbst, dass ich so naiv gewesen war. Und ich hatte geglaubt, dass er mich vielleicht auch mochte...

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Wie fandet ihr das Kapitel? Könnt ihr Theodore nachvollziehen, wieso er das tat, oder eher nicht? Ich freue mich über jeden Kommentar und Feedback.❤️

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