1. Kapitel

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"Noah? Was wird das? Ich bin's, Freya!" Der große, dunkelhaarige Mann kam bedrängend nah auf mich zu. Er hielt ein Messer in der Hand, das auf mich gerichtet war. Wir waren in einer alten Fabrikhalle. Es war fast völlig dunkel, sodass ich nur die Umrisse von Noah erkennen konnte. Doch ich war mir sicher, dass er es war. Angst schnürte mir die Kehle zu. "Noah, was ist los?", brachte ich brüchig heraus. Inzwischen stand er direkt vor mir. Das Messer in seiner Hand war vielleicht zwei Zentimeter von meiner linken Brust entfernt. "Du bist schuld," sagte Noah wütend. Doch es war nicht seine Stimme. Er bewegte zwar die Lippen, doch es war die Stimme meines Vaters. Ein kalter Schauer nach dem anderen lief mir den Rücken herunter. Ich wollte zum Ausgang an der gegenüberliegenden Wand rennen, doch der war etwa 40 Meter von der Wand entfernt, an die Noah mich gedrängt hatte.

Noah drückte mich förmlich mit dem Messer an die Wand. "Du bist schuld," diesmal war es lauter und in seiner eigenen Stimme. Ich spürte, wie sich eine Träne aus meinem Auge löste und mir über die Wange lief.

Dann geschah etwas Unerwartetes. Wut und Hass verschwanden aus Noahs Augen, und er wirkte traurig. Er legte seine kühle Hand an meine Wange, jedoch ohne das Messer von meiner Brust wegzubewegen. Sein Blick fixierte meine Lippen, und mein Herz setzte eine Sekunde aus, als er plötzlich seine Lippen sanft auf meine legte. Kurz verweilten unsere Lippen aufeinander, ohne dass sich jemand rührte. Dann löste sich sein Mund von meinem, und seine Lippen wanderten zu meinem Ohr. Ich erschauderte, als sein Atem meinen Hals streifte und ich seine freie Hand an meiner Hüfte spürte. Er drückte sanft zu und flüsterte ein letztes Mal: "Es ist deine Schuld." Dann wurde alles schwarz.

Schweißgebadet wachte ich auf. Es war nur einer der vielen Träume. Einer der Träume, die ich immer träume, seit ich hier bin.

416 Tage.

Jede einzelne Minute war eine Qual. Die Ungewissheit und die Reue machten mich weiter und weiter von innen kaputt. 416 Tage ist es her, dass ich hierhergebracht wurde. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass man mich statt in ein Jugendgefängnis in eine Einrichtung im Landesinneren, weit entfernt von der Zivilisation, für straffällige junge Frauen gebracht hatte. Hier sollten wir sozial verantwortliches Handeln, Wiedergutmachung und Eigenverantwortung lernen. Ich wusste, dass ich verdammtes Glück gehabt hatte, hier gelandet zu sein. Mit dieser Tat hatte ich mir wahrscheinlich meine komplette Zukunft verbaut. Trotzdem fühlte ich mich, als wäre alles verloren. Ich war alleine. Meine Familie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben.

"Ich will dich nie wiedersehen", die Worte meiner Mutter spukten immer wieder durch meinen Kopf, und ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Ich war alleine. Aber das wahrscheinlich Schlimmste war immer noch die Ungewissheit. Die Ungewissheit um ihn. Lebte er überhaupt noch? Wo war er? Wie ging es ihm?

Ich war damals vor dem Gericht der festen Meinung, dass die Verhandlung sich mit uns beiden befassen würde. Doch das tat sie nicht, es ging ausschließlich um mich. Ich hatte verstanden, dass ich etwas Furchtbares getan hatte, doch ich war es nicht gewesen, der dem Tankangestellten fast die Luft abgedrückt hatte. Ich war auch nicht diejenige, die ihn zu Boden geschlagen hatte. Es war Noah. Der Tankstellenangestellte hatte so getan, als hätte ich Noah dabei geholfen, jedoch hatte ich nie gewollt, dass jemand verletzt wird.

Jede Nacht dachte ich darüber nach, warum die Dinge so gelaufen sind, wie sie es sind. Doch ich hatte mich nicht gewehrt. Ich hatte keine Sätze gesagt wie: "Aber ich war das nicht." oder "Es war alles seine Idee." Nein. Ich hatte alle Anschuldigungen über mich ergehen lassen und immer genickt.

Niemand wollte mir Fragen von oder über Noah beantworten. Ich vermisste ihn so. Noch nie war ich so lange von ihm getrennt ohne ein Lebenszeichen. Der Gedanken, dass er tot sein könnte, war wie ein kleiner böser Teufel auf meiner Schulter. Doch meine rationale Gehirnhälfte war der Überzeugung, dass er nach dem Krankenhaus in ein Gefängnis für Männer oder in eine ähnliche Einrichtung wie ich befördert worden war.

Where Did Jesus Go? | Noah Sebastian - Bad OmensWhere stories live. Discover now