Fernweh

6 1 0
                                    


Ich laufe an einer Reihe von hässlichen olivgrünen, grauen und braunen Türen vorbei, hinter denen sich viele winzige Wohnungen verbergen. Im Hauptbunker leben überwiegend Vampis. In den 5 angrenzenden Bunkern ist aber auch einer allein für Menschen vorgesehen. Weil ich direkt an der Informationsquelle sitze, weiß ich, dass der gesamte Bunkerkomplex derzeit 734 Vampire und 1.424 Menschen beherbergt. Das klingt erstmal nicht viel, aber wir platzen aus allen Nähten. In der umliegenden Gegend wohnen 35 weitere Vampire, von denen manche auf den Äckern schuften und andere die nahegelegenen Ruinen plündern. In den Pyramidenstädten der Loyalisten leben angeblich zwischen 5.000 und 10.000 Vampire, pro Stadt wohlgemerkt, und eine unbekannte Anzahl an Menschen. Flüchtlinge können wir im Grunde keine aufnehmen, deshalb ist der Standort von Shattered Sky, das ist der Name unserer Bunkerzuflucht, streng geheim.

Ich gehe durch ein farbenfroh bemaltes Treppenhaus eine Etage nach unten. Das verblichene Wandbild einer heiteren Familie im Grünen bröckelt, aber nicht im übertragenen Sinne. Familie ist super wichtig. Ohne passenden Farben können wir das Fresko nur leider nicht restaurieren. Die Webstube lasse ich hinter mir und statte der Nähstube einen Besuch ab. Sie ist durch Glas vom Gang abgetrennt, was sie zu einer Art gläsernen Manufaktur macht, soll heißen, dass man den Leuten beim Arbeiten auf die Pfötchen gucken kann. Bei uns ist ohnehin alles Handarbeit. Jeder, ob nun kurzlebiger Mensch oder langlebiger Vampir, lernt während seiner Schulzeit drei Jahre lang halbtags abwechselnd in jedem der Betriebe. Ich mochte die Schneiderei am liebsten, was nicht unerheblich an ihrer Chefin liegen dürfte. Sie und zwei Männer sitzen in der Nähstube vor Nähmaschinen, die sie mit Fußpedalen betreiben. Keine Ahnung, wie die Typen heißen, aber Helena, die hübsche Chefin, bemerkt mich sehr schnell. Sie legt die Hose in ihrer Hand beiseite und winkt mir zu. Ich grinse sie an und öffne die Glastür.

"Man munkelt, heute sei dein Geburtstag", empfängt sie mich. Ich grinse noch breiter. Sie lacht und umarmt mich danach innig.

"Herzlichen Glückwunsch, Bächlein. Welcher ist es?"

"Der Zwanzigste", antworte ich. "Blutjunges Burschchen!", lacht ausgerechnet der Mensch von den beiden. Helena entlässt mich wieder aus ihrem sanften Griff und ich stelle mich besonders aufrecht vor sie.

"Jap und ich bin verdammt gut in Schuss." Dazu hebe die Augenbrauen zweideutig in Helenas Richtung.

"Ein kleiner Aufreißer, das bist du! Weißt du eigentlich, dass ich so alt wie dein Vater bin."

Sie kennt nur Alexander, also meint sie ihn.

"Echt jetzt", entfährt mir, während mir bewusst wird, dass sie so um die hundertfünfzig Jahre als sein muss. Upsi. Für eine weniger Reinblütige wie sie, sollte das etwas mehr als Halbzeit sein. Ich kann dagegen sehr, sehr viel älter werden, dem mächtigen Lucard Blut meiner Mutter und meines Konvertierers sei Dank. Da einer der Männer in der Näherei ein Mensch ist, halte ich bei dem Thema lieber die Klappe. Über ein Alter zu sprechen, das er gar nicht erreichen kann, geht schnell nach hinten los.

Helena zeigt mir eine der alten Nähmaschinen, die einen kleinen Defekt hat. Ich bin verdammt stolz, dass ich ihn wahrscheinlich sofort beheben kann. Richtig bei der Sache bin ich allerdings nicht. Während der Reparatur frage ich in die Runde: "Was glaubt ihr, wie die Welt da draußen so ist?"

"Neblig", antwortet der menschliche Mann fantasielos, aber irgendwie auch nachvollziehbar. Der andere zuckt mit den Schultern, als habe er noch nie darüber nachgedacht. Das ist schwach. Wenigstens kann Helena mehr dazu sagen.

"Ach, von dem, was mich daran interessiert ist, ist nichts mehr übrig. Ich war früher ziemlich sportbegeistert. Fußball. Schon mal gehört? Elf Spieler auf jeder Seite, die ohne Hände und Arme zu ... Nein, so versteht man es nicht. Zehntausende von Leuten trafen sich in riesigen Stadien, um 22 Spieler auf eine Weise anzufeuern, als ginge es um Leben und Tod. Das war mitreißend! Ein unbeschreibliches Gefühl, das ich nie wieder erleben werde. Du verstehst also, wenn ich sage, draußen ist nichts mehr, das mich interessiert."

River under a soiled SkyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt