Wie eine Stunde kam mir die Wartezeit eigentlich nicht vor. Vielleicht hat Shines Vater in seinem Termin auf die Tube gedrückt, um sein süßes Töchterlein schneller wiedersehen zu können. Genau das läuft nun schnurstracks zum Rand der Lounge auf etwas zu, das ich eigentlich für eine tragende und deshalb massive Säule gehalten habe. Tatsächlich aber öffnet sich daran eine automatische Tür, die zu einem Fahrstuhl gehört. Er ist etwas geräumiger als die Röhren, in denen wir sitzend bis hier hoch gefahren sind.
"149. Stock", befiehlt Shine dem Fahrstuhl, der sofort die Türen schließt und losfährt. 149. Stock ... Damit komme ich nicht klar. Ich meine, hier geht es um Stockwerke - die in die Höhe führen. Ganz ehrlich, da streikt meine Vorstellungskraft. Wie wird wohl der Ausblick sein, wenn wir so knapp unter der Spitze sind? Ich glaube nicht, dass es viele gibt, die das beantworten können. Shine zur Freundin zu haben, ist ein echtes Privileg.
Entweder ist eine Innenseite des Aufzugs verspiegelt, oder darin wohnt ein verängstigt dreinblickender Klon von mir mit blauen Haaren. Junge, was ist das für ein Gesichtsausdruck!? Den muss ich unbedingt ablegen, wenn ich will, dass mich Shines Vater wenigstens ein bisschen ernst nimmt. Kaum atme ich noch einmal tief durch, sind wir bereits oben angekommen. Mit einem halben Schritt Vorsprung betritt Shine den Raum, der exakt so groß ist wie die Lounge. Eine nach oben führende Treppe beweist, dass es noch mindestens eine weitere Etage geben muss. Der Raum, in dessen Mitte wir stehen, unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht sehr stark von der Lounge. Auch hier gibt es mehrere Sofas, zusätzlich aber auch einen Beratungstisch und eine Menge dekorativer Vitrinen mit altem Tinnef, der keinen anderen Zweck zu haben scheint, als darin zu verstauben. Schon wieder drängt sich mir vor allem ein Gedanke auf: Platzverschwendung!
Schon vom ersten Moment an, nachdem wir die Etage betreten hatten, konnte ich die Präsenz einer machtvollen Person im Raum spüren und nach ein paar Schritten sehe ich sie auch. Hinter einem auffällig großen dunkelbraunen Arbeitstisch thront ein Mann in erhabener Position auf einem sandfarbenen Ledersessel. Sein Haar gleicht dem von Shine. Es ist lang, lockig und weißblond. Sein Blick wirkt interessiert, vielleicht auch fordernd. Auf seinen Lippen erkenne ich ein leichtes Schmunzeln. Das ist also Shines Vater Octavian. Er ist Victor-Constantins Sohn, der wiederum der Bruder meines Konvertierers Robert-Valentin ist. Das macht Octavian Lucard zu meinem Cousin. Es ist gar nicht so einfach in unserer Familie den Überblick zu behalten.
Je näher wir ihm durch den großen Raum kommen, desto bewusster wird mir, woher Shines Schönheit stammt. Ihr Vater strahlt seine Ästhetik auf einem Niveau aus, das mich beeindruckt, aber auch einschüchtert. Wie soll ich mit so einem mithalten? Ich sehe ein hartes Gespräch auf mich zukommen.
Octavian erhebt sich, zeigt nun ein warmes Lächeln, das auf seiner Tochter ruht und begrüßt sie.
"Sheron, mein Liebling. Dein Besuch kommt unverhofft. Was verschafft mir die Ehre? Hattest du Sehnsucht nach mir?"
"Wir sind nur auf der Durchreise", sagt sie. Ihr Tonfall ist kühl, was mich überhaupt nicht überrascht.
Ihr Vater steht auf, läuft um den Tisch herum und kommt auf uns zu. Dabei nimmt er mich ins Visier. Ach, du Kacke!
Dann hebt er die Augenbrauen und zieht seine ganz eigenen Schlüsse. "Wir? Jetzt verstehe ich. Na, endlich. Darauf habe ich schon ewig gewartet. Mit wem habe ich das Vergnügen?"
Da er mich direkt angesprochen hat, antworte ich ihm gedankenlos mit "River Lucard".
Er hebt kurz einen Mundwinkel, als sei er zufrieden mit mir. "Ein Lucard", freut er sich. "Standesgemäß. Fantastisch! Aus welchem Familienstrang stammst du, junger Mann? Nicht aus meinem, wage ich zu behaupten. Aus David-Richards?"
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River under a soiled Sky
AdventureDer ehemals verstoßene Vampirprinz River lebt in einem bescheidenen Refugium fernab der sauberen Pyramidenstädte seines Vaters, dessen alljährliche Einladungen er an seinem 20. Geburtstag erstmalig annimmt. Gemeinsam mit der ausgebüxten Prinzessin S...