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Er stand am Fenster und starrte hinaus. Dunkelheit. Ein Blitz durchzuckte den Himmel und machte für wenige Sekunden die Nacht zum Tag. Der ohrenbetäubende Donner ließ nicht lange auf sich warten. Er öffnete das Fenster und die kühle Luft zog herein. Noch regnete es nicht. Aus der Jackentasche zog er eine Schachtel, aus der anderen das Feuerzeug. Er sollte es nicht tun, aber dennoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er zündete die Zigarette an und zog daran. Sofort musste er husten. Das Pfeifen in seiner Luftröhre begann. Einen schlechteren Zeitpunkt hatte er sich nicht aussuchen können. Bei Gewitter bekam er eh schon schlecht Luft, jetzt rauchte er auch noch. Blöde Krankheit. Aber was soll's, sagte er sich. Es war eh alles vorbei. Ein verrückter alter Mann mit tausenden, ebenso verrückten Ideen, die in seinem Kopf umherspukten. Doch er schaffte es nicht, sie alle aufzuschreiben, ein Buch daraus zu machen, eine Geschichte, der Idee Leben einzuhauchen. Viele Bücher hatte er fertig geschrieben, doch es war ein winziger Bruchteil der Ideen, die ihm pausenlos kamen. Jede schien Potenzial zu haben. Vor etlichen Jahren hatte er damit angefangen, die Ideen in einem Notizbuch festzuhalten. Doch kaum, dass er ein paar Stickpunkte zu Papier gebracht hatte, erschien ihm die Geschichte langweilig. Eine Geschichte konnte man nicht in wenigen Stichworten zusammenfassen. Eine gute Geschichte entstand im Kopf und nicht auf einem karierten Blatt eines Notizblockes. Diese beschriebenen Blätter landeten in einer Schublade in einem Schrank des großen Hauses, in dem er lebte. Aus diesen Ideen machte er nie Geschichten. Jaja, das große Haus. Schloss, wie er selbst es zu nennen pflegte. Er lachte auf. Das Schloss, das perfekte Klischee. Mit der reichen, im Schloss wohnenden Familie hatte man die Grundlage für jede Geschichte. So brauchten sich die Hauptfiguren um nichts zu kümmern, sie bekamen einfach alles. Selbst, wenn sie dem Superschurken auf der Spur waren, fehlte es an nichts. Im Schloss gab es ja alles. Wie im OP, wenn der Assistent das Skalpell und den Tupfer reicht. Doch sein Schloss hatte die Bezeichnung als solches nicht verdient. Wieder erleuchtete ein Blitz die Nacht. Die Skulpturen auf dem Hof waren für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen. Sie waren das einzig schöne hier, denn schon die Einfahrt war von Unkraut durchsetzt, die Rosen am Rande des Weges verholzt und der Rasen hochgewachsen. Die Fassade bröckelte. Die Holzdielen knarrten als wollten sie jeden Moment einstürzen. Die Elektrizität funktionierte gerade noch so. Ein Wunder, dass es noch zu keinem Brand gekommen war. Drei Flügel hatte das Schloss. Der Hauptflügel, in dem er und seine Angestellten lebten, war noch im Takt. Die anderen beiden, die vom Hauptflügel ausgingen, waren es bei weitem nicht. Zum Renovieren fehlte das Geld. Er hatte tausende Bücher verkauft, aber wirklich viel Geld kam dadurch nicht zusammen. Zumindest war es nicht so viel, dass er das Schloss hätte erhalten können. Nun fehlte ihm auch die Kraft dazu. Ein Mann am Ende der Siebziger. Oft fragte er sich, warum er so unendlich viele Ideen hatte. Warum er nur die wenigsten zu Papier brachte. Warum er es nicht geschafft hatte, das Schloss, das sich seit Generationen im Familienbesitz befand, zu pflegen. Warum er seine Familie nicht zusammengehalten hatte. Seine Frau hatte ihn verlassen, seit Jahren hatte er nichts mehr von ihr gehört. In Melbourne war sie untergetaucht. Sein Sohn zog um die Welt. Als letztes hatte er sich aus Hong Kong gemeldet. Nur er, der alte Mann, war in Belfast geblieben. Doch er konnte sie verstehen. Seine Frau hatte sich immer beschwert, dass er keinen richtigen Beruf hatte. Sein Sohn war Mitte dreißig. Jung. Er wollte die Welt sehen und nicht zu Hause einen alten Knacker pflegen, der es erst am Ende der Vierziger auf die Reihe bekommen hatte, eine Familie zu gründen. Eine Familie, die keine war. Er hustete noch einmal. Er musste es einsehen. Er hatte versagt. Viele Ideen bringen nichts. Er wollte das Fenster schließen, als es blitze. Wie versteinert blickte er auf seine Hand, die auf einmal transparent schien. Tausende kleine Blitze zuckten darin herum. Er schaffte es, seine Hand vom Fenstergriff zu lösen. Das Kribbeln ließ nur langsam nach. Verwundert betrachtete er seine Finger. Es war alles wieder wie vorher. Was war das gewesen, fragte er sich, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu, sich seine Gedanken darüber zu machen. Er sollte schlafen gehen. In seine Traumwelt flüchten, in der er seine Ideen ausleben konnte. Am nächsten Morgen würde es eh nur neuen Ärger geben.

Doch für ihn sollte es keinen nächsten Morgen geben...

Thunderstorm - Der Fluch (Buch I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt