ZEHN

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ZEHN

"Aber meine Geschichte habt ihr noch nicht gefunden?", fragte Avli. "Leider noch nicht", antwortete Benno. "Ich bin mir sicher, dass die auch noch irgendwo rumliegen wird." "Dann strengt euch mal an, dass ihr sie findet", meinte der kleine Drache zu den beiden Jungen. "Ich will unbedingt wissen, wie es in meiner Geschichte weitergeht!"

"Wir geben uns Mühe", versprach Lasse. Die Jungen waren, nachdem sie bis zum Nachmittag im Schreibzimmer verbracht hatten, nach draußen gegangen, um sich im Park umzusehen. Avli begleitete sie natürlich. Der Nebel hatte sich fast ganz verzogen, nur hier und da waren noch ein paar Schwaden zu sehen. Die Sonne schien und es war angenehm warm. Hätte jemand diese Idylle gesehen, hätte er nicht geglaubt, dass am Abend zu vor ein Gewitter über das Land gezogen war. Benno, Lasse und Avli hatten das Schloss auf der Rückseite verlassen.

Die Kieswege wurden ebenfalls von Rosen eingegrenzt. Im Vergleich zu den Beeten auf der Vorderseite des Schlosses, waren diese noch nicht zu verholzt, um Blätter auszutreiben. Einzelne Blüten konnte man hier und da auch entdecken.

Dennoch war das Bild, das sich den Betrachtern bot, nicht weniger trostlos. Hier konnten sie die anderen beiden Flügel des Schlosses sehen und der Anblick war erschreckend. Der Putz der Fassade war schon kaum noch vorhanden, die Verzierungen mit Moos überwachsen, auf dem Dach fehlten Dachziegeln und die Fensterscheiben waren teilweise rissig oder sogar schon gebrochen.

"Da ist der Hauptflügel wirklich noch am besten erhalten", stellte Benno trocken fest. "Und der gleicht schon einer Bruchbude", ergänzte Lasse, während er den Blick über das Gelände schweifen ließ. "Wo wollen wir hingehen?"

"Das Areal ist laut Ludmilla mehrere Hektar groß", erklärte Benno. "Die größte Fläche wird vom Park bedeckt." "Wo siehst du denn hier einen Park?", wollte Lasse wissen. "Meinst du etwa diesen Wald dahinten? Das kann man doch nicht als Park ansehen." "Früher war es bestimmt mal einer", vermutete Benno. "Im Moment ist noch schönes Wetter, ich würde die Gelegenheit nutzen."

"Und wer trägt mich?", fragte Avli. Im Moment lief der Drache noch auf eigenen Beinen über den Boden. "Wenn ihr mit euren langen Beinen vorneweg stürmt, komme ich doch nicht hinterher. Dann verliert ihr mich noch. Wollt ihr das wirklich riskieren?" "Man könnte es ja mal probieren", sagte Lasse. "Die Idee ist gar nicht schlecht."

Avli stemmte empört die Ärmchen in die Hüften. Da hob ihn Lasse hoch. "War doch nur ein Scherz", erklärte er. "Das will doch schwer hoffen", meinte Avli immer noch ein wenig eingeschnappt. So folgten die beiden Jungen dem Kiesweg bis zum Waldrand. Hier ging der Kies in Steinplatten über. Das Unkraut wucherte aus den Ritzen hervor und einige Steinplatten waren gerissen, wenn sie überhaupt noch aus größeren Stücken bestanden.

"Wie lange ist hier wohl schon keiner langgegangen?", fragte Benno. "Das muss doch schon Jahrzehnte her sein", vermutete Lasse. "Ich weiß nicht mehr, wer es erzählt hat, aber hat der Graf in den letzten Jahren das Schloss nicht nur noch ganz selten verlassen?" "Nachdem ihn meine Großmutter verlassen hatte und Mattse ausgewandert war, wurde aus ihm der eigenbrötlerische Mensch, der er bis zu seinem Tod war", erklärte Benno.

"Das mit deiner Großmutter ist aber auch so neie Sache", meinte Lasse nachdenklich. "An eurer Stelle würde ich doch alle Welt in Bewegung setzen, um sie zu finden." "Sie möchte nicht gefunden werden", erwiderte Benno nur. "Sie hatte ihre Gründe, das sollten wir akzeptieren." "Ist trotzdem schade für euer Familie", sagte Lasse. "Wenn ich mir vorstelle, dass meine Eltern sich plötzlich trennen und in unterschiedliche Winkel der Welt ziehen und ich nicht weiß, wo sie sich aufhalten, dann würde ich durchdrehen. Ich sehe sie schon so nur selten."

"Dann stell es dir doch nicht vor", kommentierte Avli, der auf Lasses Handfläche saß. Er hob beschwichtigend die Hände. "Das verstehe ich nicht. Du malst dir Dinge aus, die wahrscheinlich nie wahr werden könnten. Da ist es doch kein Wunder, dass..." "Reg dich ab", meinte Lasse und setzte sich den Drachen auf die Schulter.

"Und jetzt soll ich wohl zum Raben mutieren?", vermutet Avli und versuchte das Gleichgewicht zu halten. "Und ich zum Hexenmeister oder was?", ergänzte Lasse und lachte. "Hexenmeister Lasse und sein Rabe AvliAmil." "Ich hoffe nur, dieser Weg führt auch irgendwie wieder zurück", wechselte Benno das Thema. "Hast du dein Handy mit? Auch wenn wir hier garantiert keinen Empfang haben, aber dass wir wenigstens die Zeit nicht vergessen."

"Der Weg scheint endlos zu sein", vermutete Lasse und nickte. Je weiter sie in den Wald hineingingen, desto dunkler wurde es. Die Baumkronen ließen kaum einen Lichtstrahl hindurch. Zwischen den großen, alten Bäumen, standen viele junge Bäume, die mit der Zeit ausgefallen waren, weil sich keiner um den Park gekümmert hatte.

"Früher sah es hier bestimmt richtig schön aus", überlegte Avli. "Früher vielleicht", stimme ihm Benno zu. "Da war es bestimmt auch nicht so kühl hier." "In der Sonne war es schön warm, da hast du Recht", schwärmte Avli. "Wenn die Sonne dich so schön wärmt, dass du am liebsten nie mehr aufstehen würdest. Das ist schön." Er seufzte. "Wollen wir zurückgehen?", fragte Lasse.

"Bloß nicht", antwortete Benno bestimmt. "Ich will unbedingt wissen, wohin dieser Weg führt. Irgendwo muss er ja enden." "Am Ende werden wir eh nur wieder am Schloss herauskommen. Die Erbauer des Schlosses werden nicht so blöd gewesen sein, einen Weg mitten ins Nirwana zu bauen", vermutete Lasse. Auf beiden Seiten des Weges tauchten auf einmal Grasflächen auf. In der Mitte der einen stand ein Steinbrunnen, auf der anderen ein Pavillon. Die Grundfläche war sechseckig und nur auf zwei Seiten geschlossen.

Auf allen anderen Ecken standen Pfeiler, die ein hohes Dach stützen. Auf der Betonfläche stand eine alte verrostete Bank. Sowohl zum Brunnen als auch zum Pavillon führten kleinere Steinwege. "Ob sich hier früher die feine Gesellschaft zum Tee getroffen hat?", vermutete Lasse. "Sicherlich", antwortete Benno. "Heute würde man es vielleicht Gartenparty nennen."

"Das hier wäre die perfekte Location für eine Gartenparty", meinte Lasse. "Na dann frag mal deine Freunde in den USA, ob sie mal übers Wochenende nach Belfast kommen", schlug Avli vor. "Ich bin sicher, sie werden in Begeisterungsstürme ausbrechen." "Noch eine derartige Bemerkung und du läufst", drohte Lasse lachend. "Hier kann ich dich trotzdem mal absetzen." Der Junge setze den kleinen Drachen auf der Brunnenmauer ab.

"Fall nur nicht rein", mahnte er. "Ich passe schon auf", versprach Avli. Trotzdem setze er vorsichtig einen Fuß an die Kante und spähte vorsichtig nach unten. Ein paar Minuten blieben die beiden Jungen und der Drache am Pavillon, bevor sie sich entschieden weiterzugehen. Bis eben hatten sie die Sonne genossen, doch jetzt war von ihr nichts mehr zu sehen. Als sie ein paar Minuten gelaufen waren, inzwischen trug Benno den Drachen, donnerte es auf einmal über ihnen. Benno und Lasse schauten erschrocken nach oben.

Über dem Weg war das Blätterdach ein wenig lichter, sodass man den grauen Himmel sehen konnte. "Nicht schon wieder", sagte Benno. "Wohin jetzt?", wollte Lasse wissen. "Ist es nicht gefährlich, wenn man bei Gewitter im Wald ist?" "Und ob", stimme ihm Avli zu. Er bedeckte die Augen mit seinen kleinen Händen, obwohl das natürlich nichts brachte. "Schaffen wir es zurück zum Pavillon?", fragte Benno. "Keine Ahnung, glaube eher nicht", schätzte Lasse. "Gehen wir weiter, vielleicht finden wir noch einmal so etwas. Wenn nicht müssen wir die Beine in die Hand nehmen und zurück rennen."

"Dann wird uns wohl nichts Anderes übrig bleiben", stimme ihm Benno zu. Die beiden Jungen begannen zu rennen. Benno umklammerte Avli, damit ihm dieser nicht herunterfiel. Plötzlich endete der Park. Wie abgeschnitten waren die Bäume plötzlich zu Ende. Die beiden Jungen blieben stehen, um die Kulisse zu betrachten, die sich ihnen bot.

Keiner von ihnen ahnte, dass dies erst der Anfang eines großen Abenteuers werden würde...

Thunderstorm - Der Fluch (Buch I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt