ELF

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ELF

Der Anblick war atemberaubend. Für einen Moment dachten sie nicht mehr an das aufziehende Gewitter, die brodelnden Wolken, die grollenden Donner und die hellen Blitze. Vor ihnen tauchte ein riesiger Rummelplatz auf. Das Gerüst einer Achterbahn, ein Riesenrad, mehrere kleine Gebäude und unterschiedliche Dächer. Spitze, kuglige, eckige, wie auf einem echten Jahrmarkt eben. Das alles als dunkle Silhouetten vor einem noch dunkleren Hintergrund.

Ein kräftiger Wind kam auf. Die Blitze zuckten im Sekundentakt im Hintergrund des Jahrmarktes. Als einer unweit der Jungen in einen Baum einschlug, duckten sie sich schnell. "Wo kommt dieser Rummel auf einmal her?", fragte Benno. Er musste schreien, damit Lasse ihn verstand. "Ich weiß es nicht", schrie Lasse zurück. "Aber es sieht so aus, als ob wir dort warten könnten, bis das Unwetter vorbei ist."

"Dann rennen wir jetzt dorthin?", vermutete Benno. Lasse nickte, aber als er bemerkte, das Benno wegen des Windes sein Gesicht abgewandt hatte, schrie er ein kurzangebundenes "Ja". Als wäre das das Startsignal gewesen, sprinteten die beiden Jungen los. Der Jahrmarkt kam schnell näher und erleichtert stellten sie sich unter einem Dach unter.

Anscheinend diente es als Eingang, denn das Dach reichte über zwei kleine Häuser links und rechts, in denen mehrere Kartenschalter untergebracht waren. Erst nach einer Weile bemerkten sie die eingeschlagenen Scheiben. In einem Fenster, das noch unversehrt war, hing noch ein Schild „Ab 19. Oktober geschlossen".

„Dieser 19. Oktober scheint aber schon eine Weile her zu sein", überlegte Lasse. Er ging zur Rückseite des Daches an den Zaun, der den Eingangsbereich vom eigentlichen Jahrmarkt trennte. „Wenn man sich hier umsieht, könnte man denken, dass hier seit Jahrzehnten keine Menschenseele mehr war."

„So wird es auch sein", stimmte ihm Benno zu. „Bemerkt ihr beiden denn gar nichts?", rief Avli aus. Er stand am Boden und hatte die kleinen Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. „Was sollen wir bemerken?", fragte Lasse. Der Drache stöhnte laut auf. „Wenn ihr euch mal umseht, müsstet ihr doch einiges bemerken. Erstens: hier ist weit und breit kein Parkplatz. Zweitens: wir sind mindestens eine Stunde Fahrt von der Stadt entfernt. Wer baut bitte schön einen Freizeitpark mitten ins Nirgendwo. Und das wichtigste, nämlich drittens: habt ihr einen Zaun bemerkt, der das Grundstück des Grafen markiert? Nein, da war keiner! Heißt also, dass wir uns immer noch auf dem Gelände der Villa befinden."

„Du meinst also, dass der Freizeitpark auch noch zum Anwesen des Grafen gehört?", überlegte Benno. Der Junge sah durch den Zaun hindurch auf das dahinterliegende Gelände. Windschiefe, kleine Holzhütten, Laternen, deren Glas genauso gesplittert war wie die Fenster an den Kartenhäuschen, verrostete Stahlgerüste, die früher einmal ein Fahrgeschäft getragen hatten, eingewachsene Wohnwagen.

Avlis Erklärungen waren eindeutig: hier stimmte etwas nicht. „Aber dann hätte uns doch mindestens einer davon erzählt", erwiderte Lasse. „Ich meine, egal ob ein alter, verrosteter oder ein neuer, glänzender Jahrmarkt. Das ist immer eine Attraktion. Sowas würden Ludmilla und Matthias bestimmt nicht vor uns verbergen."

„Natürlich würden sie das nicht", stimmte ihm der Drache zu. „Aber das gefällt mir trotzdem nicht." „Wir werden Mattse und Ludmilla fragen", beschloss Benno. Doch auch ihm war nicht wohl bei der Sache. Er sah nach oben. Das Ziegeldach war undicht, an mehreren Stellen tropfte der Regen hindurch. Benno hoffte, dass die Gewitterfront weiterziehen würde und es die nächsten Tage keine weiteren Unwetter geben würde.

Es war seiner Meinung nach unnormal, dass es in so kurzer Zeit so viele heftige Gewitter geben konnte. Der Junge schloss kurz die Augen, atmete tief durch. Hier stimmte etwas nicht, das wusste er inzwischen. Aber was war es? Auch der Drache, der auf dem Boden gelangweilt hin und her tappte, wollte nicht in die Welt passen, die die Jungen bisher kannten. Es musste für alles eine Erklärung geben. Vielleicht fanden sie in den Unterlagen des Grafen ein paar Hinweise?

Ein Klappern ließ Lasse, Benno und Avli erschrocken herumfahren. Ein Mann war aufgetaucht, mit einem Schlüsselbund in der Hand. Er suchte einen Schlüssel heraus und schloss damit die Tür im Zaun auf. „Herzlich Willkommen im Northern Ireland Fun Park!", begrüßte der Mann sie. Er war schon alt, die Haut grau und die Zähne krumm.

„Heute ist der Eintritt für alle frei! Kommen Sie nur hereinspaziert!" Damit drehte er sich wieder um und ging davon. Die Jungen sahen sich an. „Sollen wir wirklich hineingehen?", fragte Benno. „Das Gewitter lässt nach. Was spricht denn dagegen, dass wir uns kurz umsehen? Wenn wir nicht einmal Eintritt zahlen müssen?", antwortete Lasse und versuchte es wie einen Witz herüber kommen zu lassen. Doch auch er war angespannt. Avli machte einen aufgeregten Sprung in die Luft. „Also ich möchte unbedingt eine Runde Karussell fahren. Kommt ihr mit?"

Sie konnten sich noch nicht vorstellen, was sie hinter dem Zaun noch alles erwarten würde...

Thunderstorm - Der Fluch (Buch I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt