DREIUNDZWANZIG
Diese stand immer noch lächelnd neben Dorothea. „Kannst du bitte aufhören, so falsch zu lächeln?", fragte sie Quintessa. „Du brauchst mir nichts vorzuspielen. Ich sehe es dir doch genau an, dass dir nicht zum Lächeln zu Mute ist."
„Du bist die erste, die das bemerkt", antwortete diese schüchtern. Mit dem Lächeln war auch Quintessas Selbstsicherheit verschwunden und jetzt stand sie mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf neben Dorothea. „Was ist los?", fragte sie. „Hier stimmt doch etwas nicht. Das merkt man doch schon, wenn man zur Tür reinkommt."
„Ich weiß nicht, was los ist", erklärte Quintessa. „Ich kann dir nur sagen, was ich darüber denke." „Dann sag es mir", bestimmte Dorothea. „Nicht hier", widersprach das Mädchen. „Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn jeder mithören kann." Die Mädchen verließen den Saal. Auf dem Weg nach draußen, kam ihnen ein Kellner entgegen.
Auf einer Hand balancierte er ein Tablett mit Getränken. Quintessa nahm zwei Gläser herunter, bedankte sich bei dem Kellner mit einem Nicken und reichte Dorothea das andere Glas. Der Flur war etwas gedämmter beleuchtet. Neben dem Licht, das aus dem Saal bis nach draußen schien, waren nur vereinzelt ein paar kleine Lampen angeschaltet. "Strom gibt es also schon bei euch?", fragte Dorothea. Quintessa nickte. "Bisher können es sich nur die ganz reichen Menschen leisten, für das normale Volk ist Elektrizität unbezahlbar."
"Gehört ihr denn zu dem Volk, das sich Elektrizität leisten kann?", wollte Dorothea wissen. Quintessa schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht", sagte sie und ließ sich mit einem Seufzen auf einem der Sofas nieder, die man im Flur aufgestellt hatte. Das Polster war in einem Rahmen aus dunklem Holz eingelassen und wirkte sehr edel, wie eigentlich alles im Schloss.
Dorothea brannten hunderte Fragen auf der Zunge, doch sie wusste, dass sie nicht alle auf einmal stellen konnte. Sie setze sich neben Quintessa. Nach dem vielen Laufen war das Sitzen eine Erleichterung, vor allem, als sie die Schuhe ausziehen konnte, die Sibille ihr gegeben hatte. "Du magst die Dinger auch nicht, oder?", fragte Quintessa und lächelte unsicher. Zum ersten Mal an diesem Abend nahm Dorothea ihr das Lachen ab.
"Was geht hier wirklich vor sich?", stellte Dorothea die erste, vorsichtig formulierte Frage. "Das mit der Prinzessin glaube ich dir nicht." "Das ist aber das, was uns erzählt wird", erwiderte Quintessa. "Ich weiß selbst nicht, was wahr ist. Die Prinzessin habe ich noch nie gesehen. Ich kenne auch keine Aufnahmen von ihren Eltern. Das gesamte Königshaus, das es angeblich geben soll, habe ich noch nie gesehen. Es ist eben das, was schon immer in meinem Kopf zu sein scheint und ich nicht weiß, woher ich es habe."
"Hast du nie mit deinen Eltern darüber gesprochen?", wollte Dorothea wissen. "Ich habe meine Eltern schon lange nicht mehr gesehen. Ist das nicht schlimm? Ich kann mich nicht an sie erinnern, weil es schon so lange her ist. Es ist, als würde ich sie überhaupt nicht kennen." "Du kennst deine Eltern nicht? Aber irgendwo musst du doch wohnen." Für Dorothea ging das Gespräch in die falsche Richtung.
Eigentlich hatte das Mädchen vorgehabt, ihre Fragen beantworten zu lassen, doch stattdessen warfen sich noch mehr Fragen auf. "Ich... wohne hier im Schloss", erklärte Quintessa. Sie starrte unglücklich das Glas in ihren Händen an. Dorothea hatte bisher noch nicht davon probiert. Andere Dinge waren im Moment wichtiger. "Mein Bruder Joris genauso. Sibille wohnt ebenfalls hier. Anscheinend wohnen alle Gäste hier im Schloss. Ich... ich kann es dir nicht sagen."
"Was hat es mit diesem Ball auf sich?", fragte Dorothea. "Du hast gesagt, er findet seit einigen Wochen statt, weil die Prinzessin jeden Tag einen anderen Anlass findet. Wie kann das sein, wenn die Prinzessin oder jemand anderes nie in Erscheinung tritt?" Quintessa schüttelte schon wieder den Kopf. Das ständig lächelnde Gesicht war einem verzweifeltem gewichen. "Solange ich mich erinnern kann, bin ich hier im Schloss und jeden verdammten Abend findet ein Ball statt", sagte sie mit Verachtung in der Stimme.
"Ich gehe gegen Morgengrauen schlafen, wache am Nachmittag wieder auf und da sagt mit entweder Joris oder Sibille, dass am Abend ein Ball stattfindet. Das bedeutet für mich, dass ich ein paar Stunden habe, um mir ein passendes Kleid auszusuchen und mich zurechtzumachen. Dann beginnt am Abend der Ball, der bis in die Morgenstunden hinein dauert. Ich lege mich schlagen und wache gegen Nachmittag wieder auf. Was danach kommt, kennst du." "Das machst du jeden Tag?" Dorothea war sprachlos.
"Geht das den anderen Gästen nicht auch irgendwann zu weit? Jeden Abend dasselbe? Feiern, Tanzen, Spaß haben? Nichts anderes zu tun?" "Die anderen bemerken nicht, dass wir uns in einer Endlosschleife befinden", sagte Quintessa tonlos. "Ich bin die einzige, die sich jeden Abend aus Neue quälen muss, das fröhliche Mädchen zu spielen. Niemand anderes hat bisher bemerkt, dass die Prinzessin, die die Bälle veranstalten lässt, nie in Erscheinung tritt.
Niemand anderes macht sich Gedanken darüber, warum wir jeden verdammten Abend auf den Ball gehen. Niemand anderes stellt infrage, dass es noch etwas anderes außer das ständige Feiern gibt. Es ist, als wäre das Aufwachen, das Fertigmachen und der Ball das einzige, was in unserem Leben existiert. Die Ereignisse reihen sich immer wieder aneinander, endlos wiederholen sie sich und keinen wundert das?"
Bei den letzten Worten war Quintessas Stimme immer schriller geworden. "Ich will, dass das aufhört. Ich werde noch verrückt. Ich will nach draußen gehen, durch den Park laufen, den ich jeden Nachmittag nach dem Aufwachen vor meinem Fenster sehe. Ich kann einfach nicht mehr." Das Glas rutschte ihr aus der Hand und zerfiel am Boden zu Scherben. Quintessa kümmerte sich nicht darum, sie hatte den Kopf auf die Hände gestützt. Sie atmete schwer.
"Manchmal denke ich darüber nach, es einfach zu beenden", sagte sie und blickte Dorothea an. Ihre Augen schimmerten in Tränen. "Es muss aufhören. Solange ich denken kann, gehe ich jeden Tag auf den Ball. Am Anfang war es schön und ich habe mich jedes Mal auf den nächsten Ball gefreut, aber mit der Zeit wird man es einfach leid. Die anderen haben immer noch Spaß und können nicht aufhören zu feiern. Nur ich muss mich jeden Abend aus Neue verstellen, um nicht aufzufallen.Ich weiß nicht, wie die anderen reagieren würden, wenn ich morgen nicht zum Ball erscheine. Schon oft habe ich versucht, einfach mal nicht zum Ball zu gehen. Ich habe es nie geschafft."
Dorothea hatte Mitleid mit Quintessa. Es war wirklich kein schönes Leben, wenn man sich immer verstellen musste, um den anderen den nie versiegen wollenden Spaß zu verderben. Noch viel schlimmer war aber, nichts über seine Vergangenheit zu wissen. Für Dorothea wäre es die Hölle, ihre Eltern nicht zu kennen. Egal, ob sie sich getrennt hatten oder nicht, es waren ihre Eltern. "Wenn ich auch wie die anderen jeden Abend Spaß haben könnte und nicht bemerken würde, dass wir immer wieder dasselbe machen, wäre alles in Ordnung. Aber ich habe irgendwann den Fehler begangen, darüber nachzudenken.
Seitdem kann ich nicht mehr so tun, als würde mir das Lächeln im Gesicht festsitzen. Das bin nicht ich. Das alles hier bin nicht ich." Sie deutete anklagend auf ihr Kleid, die Schuhe, die Frisur. "Ich bin mir selbst fremd. Ich weiß über mich nicht mehr, als dass ich Quintessa heiße, aber das ist auch schon alles. Verstehst du? Ein Name ist alles, was ich über mich weiß. Ein Name, verdammt, nur ein Name! Nichts! Sonst weiß ich nichts über mich!"
Dorothea konnte nicht anders. Sie nahm Quintessa in die Arme, der die Tränen inzwischen über das Gesicht rannen. "Weißt du, wie froh ich bin, dass du da bist? Dass Lasse, Benno und euer Drache aufgetaucht sind? Ich habe dir gleich angemerkt, dass du dich hier nicht wohlfühlst. Dass euch das alles fremd ist." Sie schniefte. "Ich will mir selbst nicht mehr fremd sein. Könnt ihr mir helfen? Ihr seid die einzigen, die das verstehen könnten."
Sie löste sich aus Dorotheas Umarmung und sah sie ernst an. "Bitte. Könnt ihr mir helfen?"
Dorothea hätte ihr sofort Hilfe versprochen, wenn sie nur einen blassen Schimmer gehabt hätte, was das alles bedeutete...
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Thunderstorm - Der Fluch (Buch I)
FantasyEr hatte viele Ideen. Einige spukten für immer in seinem Kopf herum. Andere fasste er in einem Notizblock zusammen, um sie nicht zu vergessen. Doch aus Ideen werden nur Geschichten, wenn man sie erzählt. Ein altes, baufälliges Schloss, weit außerh...