ZWÖLF

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ZWÖLF

Langsam wagten sie sich voran. Neben dem Eingang stand eine Tafel, auf dem eine verblichene und kaum noch lesbare Karte des Freizeitparkes angebracht war. Darauf eingezeichnet waren alle Fahrgeschäfte und Attraktionen, alle Essensstände und sanitären Anlagen. Auch einen Streichelzoo sollte der Park beherbergen.

Die beiden Jungen standen einige Minuten schweigend vor der Tafel. „Versprecht euch nicht zu viel von der Karte", sprach sie auf einmal eine Stimme an. Benno und Lasse fuhren herum. Neben ihnen stand auf einmal ein Junge, etwa in ihrem Alter, und grinste fröhlich.

„Wie ihr seht, ist das alle schon ziemlich heruntergekommen. Das, was auf der Karte zu sehen ist, existiert schon seit meiner Geburt nicht mehr. Und die liegt auch schon wieder vierzehn Jahre zurück", sagte er. Benno und Lasse starrten den Jungen an, unfähig etwas zusagen. „Hat euch etwas die Sprache verschlagen?", fragte er. „Das war wahrscheinlich Don. Er sieht ein bisschen abschreckend aus, aber er freut sich, dass endlich wieder Besucher hier sind. Ihr seid die ersten seit mindestens zehn Jahren."

Der Fakt, dass sie die ersten Besucher seit einem Jahrzehnt waren, trug nicht gerade dazu bei, dass Benno und Lasse ihre Sprache wiederfanden. „Wollt ihr nicht endlich mal was sagen?", beschwerte sich Avli. „Das ist ja unhöflich!" Er ging zu dem Jungen hin und reichte ihm die Hand, doch mit seinen kurzen Armen reichte er gerade unter seine Knie. Doch der Junge beugte sich hinab und schüttelte Avli die Hand.

„Ich heiße Avli Amil, aber du kannst mich Avli nennen. Freut mich, dich kennenzulernen", stellte er sich vor. „Hallo Avli, ich bin Sylvain", erwiderte der Junge den Gruß. „Wenn die beiden nicht gleich ihre Sprache wiederfinden, muss ich sie wohl vorstellen", überlegte Avli. „Nein... nein. Nicht nötig", brachte Benno langsam zustande. „Das können wir schon selbst machen. Ich heiße Benno." „Ich bin Lasse", konnte auch der inzwischen wieder sprechen. Die Jungen reichten sich die Hand.

„Freut mich euch kennen zu lernen", sagte Sylvain. „Was führt euch hierher? Ihr seid die einzigen seit zehn Jahren, die sich hierher verirren." „Das wissen wir auch nicht wirklich", antwortete Benno vage. „Wir sind eher durch Zufall hierhergekommen", ergänzte Lasse. „Das ist doch ein schöner Zufall. Soll ich euch den Freizeit Park zeigen? Dann kommen wir auch endlich aus dem Regen raus", schlug Sylvain vor. Zwar hatte der Regen inzwischen nachgelassen, es nieselte nur noch leicht, aber Benno und Lasse hatten nichts dagegen einzuwenden, ins Trockene zu kommen.

„Dann folgt mir!" Nicht weit vom Eingang entfernt stand ein größeres Gebäude, über dessen Eingang Buchstaben angebracht waren. Von einigen fehlten nur Stücken, andere waren gar nicht mehr vorhanden. „Das soll Aquarium heißen", erklärte Sylvain. „Es ist ja nicht schwer zu erkennen. Mit drei Besuchern innerhalb von zehn Jahren, die noch dazu keinen Eintritt zahlen mussten, kann man keinen derartig großen Freizeitpark erhalten."

„Warum seid ihr dann immer noch hier?", fragte Benno. „Wen meinst du mit ‚wir'?", erwiderte Sylvain. „Na du und dieser Don, den du vorhin erwähnt hast", antwortete Benno. „Meine Eltern und noch einige andere Mitarbeiter leben auch noch hier. Eigentlich müssten sie das gar nicht, da der Park ja schon seit Jahren geschlossen ist. Aber wir hängen alle viel zu sehr daran. Ich bin hier aufgewachsen, ich kann mir einen anderen Ort zum Leben gar nicht vorstellen", erklärte Sylvain überzeugt.

„Gehst du zur Schule?", fragte Lasse. „Nein. Warum auch? Alles, was ich wissen muss, bringen mir die anderen bei. Ich habe rechnen mit den Eintrittsgeldern geübt, obwohl wir nur wenig hatten. Lesen und Schreiben habe ich nebenbei gelernt. Sport mache ich jeden Tag, indem ich eine Runde durch den Park gehe. Das ist Bewegung genug. Ihr seht, es mangelt mir nicht an Bildung", erzählte Sylvain. „Obwohl... während alle anderen einen Schulabschluss haben und damit ihre Traumberufe erlernen können, werde ich nie einen haben."

„Einen Schulabschluss oder einen Beruf?", wollte Avli wissen. Während die drei Jungen durch das ehemalige Aquarium gingen, hatte Avli mit seinen kurzen Beinen Mühe, Schritt zu halten. „Wahrscheinlich beides", antwortete Sylvain und wirkte niedergeschlagen. „Warum sollst du das denn nicht haben? Es gibt in Belfast doch genug Schulen. Universitäten kannst du auch überall besuchen, dazu müsstest du noch nicht einmal weit weg von hier!", erwiderte Benno verwirrt.

„Mein Vater will das nicht", erklärte Sylvain und blickte sich um, als könnte sein Vater die Worte hören. „Ihm gehört der Park und er will, dass ich ihn eines Tages übernehme und so weiterführe, wie es die Familientradition seit Jahrzehnten verlangt. Dazu muss ich keine fünf Sprachen sprechen oder ein Gedicht Wort für Wort analysieren können. Ich muss keine schwierige Wahrscheinlichkeitsrechnung oder die unregelmäßigen Verben beherrschen. Zumindest nicht, wenn ich den Park leiten soll. Nur, wie soll das gehen? Wir haben kein Geld, im Gegenteil, wir sind hoch verschuldet! Es gibt keine Besucher, die Geld einbringen. Die Mitarbeiter werden schon seit Jahren nicht mehr bezahlt. Wir können uns keine Neuerungen und Renovierungen leisten. Wie soll das nur weitergehen?"

Sylvain schniefte, wandte schnell den Blick ab und versuchte die Tränen zurück zu halten. Benno und Lasse sahen sich um. Dass das Geld an allen Ecken und Enden fehlte, war nicht schwer zu erkennen. Die Aquarien trugen nur noch die Bezeichnung, verdient hatten sie es nicht. Die Scheiben waren gerissen und verdreckt, Fische konnte man nirgends erkennen. Das Dach war undicht und die Elektrizität funktionierte auch nicht mehr. In anderen Teilen das Parks sah es bestimmt nicht besser aus.

„Warum erzähle ich euch das eigentlich alles? Ich kenne euch gerade mal seit ein paar Minuten", sagte Sylvain mit brüchiger Stimme. „In ein paar Stunden verschwindet ihr eh alle wieder. Ihr hattet euren Spaß und dann lasst ihr uns alle wieder alleine. Es ist doch immer so!" „Sag doch sowas nicht", erwiderte Avli betroffen. „Wir verstehen dich!"

Sylvain blickte die dreien an, die zeitgleich nickten. „Warum haust du nicht einfach ab? Wenn du mit einem Beruf und einer Grundlage, Geld zu verdienen, zurückkommst, dann kann dir dein Vater doch gar nicht böse sein", schlug Lasse vor. „Ich habe es doch schon probiert", murmelte Sylvain leise vor sich hin. „Aber... es funktioniert einfach nicht! Immer, wenn ich abhauen will, stoße ich irgendwann, nicht weit vom Park entfernt, auf eine unsichtbare Wand. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll, aber es kommt mir vor wie eine Wand. Von da an kann ich einfach nicht weitergehen und ich kehre immer um. Wirklich immer!"

„Das ist... blöd", meinte Lasse zerknirscht. „Wer weiß, wozu es gut ist. Vielleicht hat mir ja jemand so ein Schicksal voraus gestimmt", überlegte Sylvain. „Kannst du uns vielleicht den Park zeigen? Dann kommst du auf andere Gedanken", schlug Benno vor. „Das habe ich eh vor. Ich werde euch einen Ort zeige, wo ich immer auf andere Gedanken komme", antwortete Sylvain. „Hier entlang!" Die drei Jungen verließen das Gebäude des Aquariums und gingen einen anderen Weg entlang.

Die Worte Sylvains hätten Benno und Lasse vorwarnen können, doch dazu war es an dieser Stelle noch zu früh...

Thunderstorm - Der Fluch (Buch I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt