DREISSIG KOMMA FÜNF
Wer auch immer diesen Brief finden mag,
es tut mir leid, denn wenn du dieses Schreiben liest, werde ich nicht mehr unter euch weilen. Ich werde dir ein ziemliches Chaos hinterlassen haben. Dafür möchte ich mich schon einmal in aller Form entschuldigen. Du wirst jetzt lachen, nicht, weil es lustig ist, sondern weil das geschriebene Wort Entschuldigung natürlich nichts besser macht. Mir gibt es vielleicht ein besseres Gefühl, euch hilft es kein Stück weiter.
Ich gebe zu, dass ich Fehler gemacht habe. Ziemlich viele sogar. Ich weiß das jetzt, obwohl es nun zu spät ist, diese Fehler einzugestehen. Aber mir ist klargeworden, dass ich in meinem Leben vieles anders hätte machen müssen. Angefangen bei meiner Familie. Ich hoffe, dass sie alle noch einmal zusammenkommen und vielleicht aus einer anderen Dimension zusehen kann, wie sie alle wieder zusammenfinden, was sie all die Jahre, dank mir, nicht konnten. Es würde mich sehr glücklich machen. Doch wenn ich nicht mehr da, aber immerhin glücklich bin; euch hilft es kein Stück weiter.
Mit dem Schloss werden sie alle viel Arbeit haben. Doch für die nötigen Reparaturen wird kein Geld da sein. Ich will nicht sagen, dass ich nicht ein kleines Vermögen verdienen konnte, so arrogant es klingen mag, aber das Schloss wird das Geld verbrauchen, als würde ein Tropfen auf einem heißen Stein verdampfen. Egal wie du es anstellen wirst, aber das Schloss darf nicht weiter verfallen. Es muss bestehen bleiben. Ich kann in meinem Testament darüber verfügen, doch ich weiß, dass ich dir damit nur noch mehr Steine in den Weg lege. Egal wie ich es anstelle, euch hilft es kein Stück weiter.
Ich kann einfach nicht mehr. Ich bin müde und will nur noch meine Ruhe. Wenn ich nicht mehr da bin, wird ein anderer Mensch kommen und mich ersetzen. Menschen kommen und gehen, wie die Blätter an einem Baum. Im Herbst fällt eines zu Boden und im Frühjahr wächst an derselben Stelle ein neues Blatt. Es ist vielleicht schöner und größter, aber vielleicht auch kleiner und nicht ganz so schön anzusehen, aber es ersetzt in jedem Fall das andere. Wir sind bedeutungslos, sehen wir es doch ein. Wir werden ersetzt und ausgetauscht, wie es er Natur gerade passt. Aber vielleicht ist das auch gut so. Dann können vielleicht Fehler ausgebessert und behoben werden. Irgendwann wird dann gar nicht mehr auffallen, dass es mal einen Fehler gab. Dazu müssen aber noch viele Jahreswechsel vergehen, an manche Fehler wird man sich immer erinnern. Fehler können folgenreich sein. Das beste Beispiel kennen wir alle. Doch was nützt es, den Fehler zu kennen, wenn man ihn nicht behebt? Richtig, euch hilft es kein Stück weiter.
Ich habe in meinem Leben viele Figuren erfunden, die aufwachsen sehen, Habe mit ihnen gelitten und bin mit ihnen gestorben. Ich habe gesehen, wie sie ihre Abenteuer bestanden haben, wie sie sich einander näherkamen und wie sie sich trennten. Leider muss ich über mich sagen, dass ich über meine Buchfiguren mehr weiß als über meine Frau und meinen Sohn. Oder über die Menschen, die mir für Jahre an der Seite standen und mich mit all meinen Macken ertragen haben. Es ist doch traurig, dass es so ist, oder etwa nicht? Ich weiß, dass Menschen viel mehr sind, als man sie auf einem Blatt Papier beschreiben könnte. Sie sind einzigartig, sodass man über jeden einzelnen tausende Seiten schreiben könnte, aber immer noch nicht weiß, wie einzigartig sie wirklich sind. Im Leben begegnet man vielen Menschen. Mit einigen verbringt man etwas Zeit, dann vergisst man sie wieder, weil die Wege sich trennen. Dafür lernt man andere Menschen kennen, die einen beeinflussen. Egal in welcher Art und Weise, es ist immer unsere Umgebung, die uns formt. Es gibt nicht nur einen einzigen, der einen Menschen bestimmt. Man kann ihn zwar ein Stück weit beeinflussen, aber den Rest müssen die anderen machen. Egal wie es kommt, man kann es immer noch ändern. Man muss sich nur die Zeit nehmen. Ich schreibe einen Brief. In schriftlicher Form wirken Worte immer so harmlos. Mit derselben Handschrift wirkt die Beschreibung einer schönen Blumenwiese genauso wie die eines blutigen Mordes. Ein geschriebenes Wort kann auf so viele Art und Weisen verstanden werden. Spricht man es jedoch laut aus, dann ist uns klar, welche Bedeutung, welchen Klang, welche Absicht wir dem Wort verleihen. Das habe ich jetzt auch endlich gelernt.
Und vielleicht bringt das euch ja ein Stück weiter...
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Er vermied es, den Brief zu unterschreiben. Eine bedeutungslose Unterschrift würde nur alles wieder kaputt machen. Er seufzte. Was hatte er der Welt nun noch zu sagen? Nichts mehr. Seine Zeit war abgelaufen, der Vorhang würde sich schließen und sein Auftritt wäre vorbei. Applaus würde es dafür sicher nicht geben.
Er schloss den Füllfederhalter sorgfältig und steckte ihn in den Stifthalter zurück. Dann faltete er die Papierbögen vorsichtig zusammen und steckte sie in einen Umschlag. Diesen versteckte er gut. Wer weiß, ob man ihn jemals finden würde. Dennoch fühlte er sich gut. War es nicht schändlich, dass er sich wegen eines Briefes auf einmal gut fühlte?
Er hatte immerhin keineswegs dazu beigetragen, dass irgendetwas besser wurde. Er würde auch nichts mehr richten könne. Eine Zugabe würde man nicht verlangen. Er konnte es nicht mehr zum Guten richten. Diese Last musste er auf andere Schultern übertragen. Er schlug die Bettdecke zur Seite und legte sich hin. In der Ferne donnerte es. Seine letzten Gedanken...
Dann schlief er ein...
DER FLUCH STEHT AM ANFANG, ABER SEIN VERMÄCHTNIS WIRD NOCH VIEL BEDEUTENDER SEIN.
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Thunderstorm - Der Fluch (Buch I)
FantasyEr hatte viele Ideen. Einige spukten für immer in seinem Kopf herum. Andere fasste er in einem Notizblock zusammen, um sie nicht zu vergessen. Doch aus Ideen werden nur Geschichten, wenn man sie erzählt. Ein altes, baufälliges Schloss, weit außerh...