ACHTZEHN KOMMA FÜNF

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ACHTZEHN KOMMA FÜNF

Er wandte sich vom Fenster ab. Sein Atem hatte sich wieder beruhigt. Vielleicht sollte er wirklich endlich schlafen gehen. Er setzte sich auf sein Bett. Sein Blick fiel auf den kleinen Schrank. Einige Bilder standen darauf, die seine Familie zeigten. Seine Familie, die er nicht hatte zusammen halten können.

Er nahm einen der goldenen Rahmen in die Hand. Seine Frau, die nicht bei ihm bleiben wollte. Es war schon über zwei Jahrzehnte her, dass sie sich von ihm getrennt hatte. Dabei liebte er sie immer noch. Sie war die einzige Frau in seinem Leben gewesen, die er so geliebt hatte. Der Schmerz verletzte ihn immer noch tief, wenn er daran dachte, wie seine Frau, ohne mit der Wimper zu zucken, die Papiere unterschrieben hatte, die das Ende seiner Ehe besiegelten.

Er hatte sie enttäuscht. Immer und immer wieder. Die Monate vor der Scheidung waren sie immer wieder in Streit geraten, wegen jeder kleinen Nichtigkeit. Er hatte sich nie entschuldigt, stattdessen zog er sich immer in sein Büro zurück. Niemals hatte er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass er daran schuld war. Nein, die anderen beschuldigte er, beschimpfte sie. Seine Angestellten, seine Frau und sogar seinen Sohn.

Dass sie es bei ihm nie lange aushielten, konnte er erst jetzt, wo es schon viel zu spät war, verstehen. Er trug die Schuld. Er war schuld daran, dass seine Frau sich einen anderen gesucht hatte, in Deutschland. Mit ihm hatte sie eine Tochter bekommen, die ihm zum Großvater gemacht hatte. Seinen Enkel hatte er erst wenige Male gesehen. Selbst wenn ihn seine Verwandtschaft aus Deutschland besucht hatte, war er immer in seinem Büro verschwunden.

Die Arbeit war ihm im Laufe seines Lebens immer wichtiger geworden. Zu wichtig. Er sollte doch froh sein, dass seine Frau dafür gesorgt hatte, dass ihre neue Familie, seine Stieftochter und sein Enkel, ihn kennenlernten. Das hatte sie getan. Nachdem ihr zweiter Mann plötzlich verstorben war, hatte sie versucht, die Familie wieder zusammen zu bringen. Aber nicht nur an der geografischen Entfernung zwischen Belfast und Deutschland war es gescheitert.

An ihm war es gescheitert. Er konnte sich kaum an das Gesicht seines Enkels erinnern. Warum hatte er es nur geschafft, alle zu vertreiben? Seine Frau wanderte nach Melbourne aus. Nach Australien. Was sie dort trieb, wusste er nicht. Er konnte sich aber denken, dass sie Abstand wollte. Abstand zu ihm. Abstand zu allem ,was mit ihm in Verbindung stand. Einen einzigen Brief hatte sie ihm geschrieben, förmlich, der mit „Sehr geehrter" begonnen und „Mit freundlichen Grüßen" geendet hatte.

Nur so wusste er, dass sie sich eine Weile in Melbourne aufhalten wollte. Nur, wie lange hatte diese Weile gedauert? Es wären bald zehn Jahre, die er kein Wort mehr von ihr hörte. Vielleicht hielt sie sich inzwischen gar nicht mehr in Melbourne auf? Sie hatte immer die Welt bereisen wollen. Nur wegen ihm war sie in Belfast geblieben. Als sie ihn los war, versuchte sie bestimmt, das nachzuholen, was sie dank ihm versäumt hatte.

Er war noch nie außerhalb Belfasts gereist. Alles, was er brauchte, war hier gewesen. Das hatte er zumindest immer gedacht. Nicht einmal seinen Sohn konnte er hierhalten. Kaum, dass er zwanzig war, den Schulabschluss in der Tasche und einiges Geld verdient hatte, war er gereist. Hatte in Mailand Fotografie studiert und war schließlich Dokumentarfilmer geworden.

Seitdem reiste er in der Welt umher. Von Shanghai nach Cordoba, von Las Vegas nach Fairbanks, von dort aus nach Abu Dhabi und nach Casablanca. Nur selten führten ihn seine Reisen nach Belfast, dorthin zurück, wo er geboren wurde. Er konnte es seinem Sohn nicht verübeln, dass er geflüchtet war. Er wäre gerne selbst geflüchtet. Geflüchtet vor sich selbst.

Aber das ging leider nicht...

Thunderstorm - Der Fluch (Buch I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt