Kapitel 15

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Lu's POV

Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, wie ich nach Hause kommen sollte. Ich war noch nie in dieser Gegend gewesen, kannte keinen der Straßennamen und von gestern war nichts hängen geblieben. Wie es kommen musste hatte mein Handy natürlich auch keinen Akku mehr. Doch um nicht planlos hier stehen zu bleiben und vielleicht von den beiden durch ein Fenster gesehen zu werden, entschied ich mich planlos für eine Richtung und versuchte mein Glück.

Seit circa zehn Minuten lief ich nun schon durch Aachen und war bereits an einer breiteren Straße angelangt. Der Fakt, dass heute Montag war, störte mich wenig.
Ein Radunfall würde meine Verspätung auf der Arbeit erklären. Mein größeres Problem war Chris. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war und wollte ihn, so komisch es klang, keine Sekunden länger alleine zu Hause lassen. Vielleicht würde der Ärger etwas kleiner ausfallen, je eher ich wieder zu Hause war.
Mein Ziel war schon lang nicht mehr meine Heimatadresse, ich musste noch einen Abstecher zum Bahnhof machen, da dort seit gestern mein Rad stand. Bis jetzt hatte ich jedoch kein einziges Zuggeräusch vernommen, was meine Situation etwas aussichtsloser machte.

Konzentriert entzifferte ich die Straßennamen auf den blauen länglichen Schildern, die alle 10 Meter in eine kleinere Straße wiesen.
Ich war so darauf fixiert, dass ich den jüngeren Mann, der mir auf dem Bürgersteig entgegenkam, gar nicht bemerkte. Er hatte mich jedoch anscheinend gesehen, denn kurz vor unserem Zusammenprall streckte er seine Hände vor sich, um mich aufzufangen. Peinlich berührt stand ich nun direkt vor ihr und ging aus Prinzip einen Schritt zurück, um Abstand zu halten.
"Ähm, tut mir mega leid, ich-", stammelte ich, während ich nervös meine Finger knetete. Der Mann jedoch lächelte mich bloß an. 'Sein Lächeln hatte etwas warmes, herzliches', dachte ich mir. 'Lu, stopp, der erste Eindruck kann täuschen', mahnte ich mich sofort wieder.
"Alles gut, musst dich nicht entschuldigen, das passiert", meinte er freundlich zu mir.
"Wenn ich fragen darf, suchst du was? Du sahst danach aus."
"Ja, schon", antwortete ich unsicher.
Geduldig sah er mich an, er wirkte eigentlich wirklich sympathisch.
"Also, ich suche den Weg zum Bahnhof", brachte ich schließlich heraus.
"Achso, ja. Da musst du die Straße einfach weiter gerade aus und dann links in die Lilienstraße abbiegen. Wenn du die bis zum Schluss gehst kommst du zu ner Brücke, da einfach drüber und dann bist du da. Ich würd dich gern hinbegleiten, aber ich muss ins office, tut mir leid."
"Alles gut", gab ich nur zurück.
"Vielen Dank für die Hilfe."
"Nichts zu danken, ich hoffe du findest den Weg", meinte er lachend und drehte sich schon zum Weitergehen um. "Schönen Tag noch."
Kurz darauf war er schon in einer Abzweigung verschwunden.

'Netter Typ', dachte ich mir, bevor ich mich auf den Weg mache. Wahrscheinlich war es gegen acht Uhr, was hieß, ich musste mich wirklich beeilen.
Ich hätte ihn auch fragen können, doch das war mir zu unangenehm.
Ohne jetzt weiter darüber nachzudenken machte ich mich auf den beschriebenen Weg, in der Hoffnung, dass es der richtige war.

Und tatsächlich, nach weiteren 10 Minuten kam ich bei meinem Rad an. Der Mann hatte sich anscheinend gut ausgekannt. Oder ich war zu inkompetent dafür.
Was solls. Schnell öffnete ich mein Schloss und schwang mich auf den Sattel, welche vom Tau noch etwas feucht war. Ich trat in die Pedale, so kräftig ich konnte. Schließlich wollte ich es bei der Begegnung mit Chris wirklich nicht darauf ankommen lassen.

Je näher ich unserer Wohnung kam, desto mehr zog sich meine Brust zusammen und mein Puls ging in die Höhe. Ich stellte mein Rad am Geländer ab und kramte den Schlüssel aus meiner Jackentasche. 'So, das hast du dir wie immer selber eingebrockt, da musst du jetzt durch', redete ich mir selbst ein. Ich holte noch einen tiefen Atemzug der kühlen Luft, bevor ich den Schlüssel ins Schloss steckte und langsam herumdrehte. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf. Ich horchte in die Wohnung. Stille.
War Chris etwa noch am Schlafen?
Ich verschwendete keine Zeit und trat schnell herein, hinter mir schloss ich die Haustür. Bedacht darauf, kein Geräusch zu machen, hängte ich meine Jacke wieder an den Kleiderhaken, stellte meine Schuhe ins Regal, legte den Schal ab und platzierte den Schlüssel wieder auf der Ablage. Erneut verharrte ich in meinen Bewegungen, doch ich vernahm immer noch keinen Ton.

Vorsichtig schlich ich zu unserem Schlafzimmer. Ich atmete einmal tief ein, nahm meinen Mut zusammen und öffnete langsam die Tür. Und tatsächlich, da lag Chris auf seiner Betthälfte, eingehüllt in die Decke und schnarchte ein bisschen. Schnell tapste ich zu meinem Nachtkästchen und steckte mein Handy an. Dann ging ich zu meinem Kleiderschrank und holte mir flüchtig eine Jeans und ein Top mit bedacht langen Ärmel. Eine Unterhose und ein frisches Paar Socken und dazu zog ich noch den obersten Pulli heraus. Dann verschwand ich schon wieder, nicht länger wollte ich mit Chris in einem Raum sein.

Schnell wechselte ich im Flur meine Klamotten und steckte die getragene Wäsche in einen Wäschekorb, der an der Wand stand. Nun machte ich mich auf den Weg in die Küche. Sobald ich eintrat, vernahm ich das vertraute Ticken der Uhr, die zwanzig nach acht anzeigte.
Ich würde nicht einmal viel zu spät zur Arbeit kommen.
Ich musste nur noch Chris etwas fürs Frühstück herrichten. Glücklicherweise war im Brotkorb noch eine relativ frische Brezel.
Diese stellte ich ihm auf einem Brett an seinen Platz am Tisch, daneben Butter und Schinken. Er hatte einen übermäßig hohen Fleischkonsum und verzehrte alles mit Fleisch und Wurst, während ich lieber auf tierische Produkte verzichtete.
Heute musste ich mir selbst ja kein Frühstück mehr machen, da ich bei Annika etwas bekommen hatte, weshalb ich mich schon wieder zur Garderobe bewegten konnte. Ich schlüpfte wieder in meine, noch von vorher frische Jacke, zog meine Sneaker an, warf meinen Schal über und steckte den Schlüssel wieder ein. Das Handy hatte nicht genug Zeit zum Laden, das wurde wohl beim Sturz etwas demoliert.

Leise verließ ich wieder unsere Haus, schnappte mir mein Rad und fuhr zum Büro, als wäre nie etwas passiert. Als hätte sich nicht in den letzten Stunden mein Leben komplett geändert.

But who fights for you? || Julien Bam ffWo Geschichten leben. Entdecke jetzt