V / weiße Rose, Blumen im Regen und Stift

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Ich war bereits im Café, als ich das Notizbuch, das Eliot mir geschenkt hatte, vorsichtig aufschlug. Die Seiten waren noch unbeschrieben, das Papier glatt und einladend. Ich strich mit den Fingerspitzen über die erste Seite und spürte, wie eine seltsame Mischung aus Nervosität und Vorfreude in mir aufstieg. Es war lange her, dass ich das Bedürfnis verspürt hatte, etwas zu schreiben. Worte waren mir in den letzten Monaten schwergefallen. Zu schwer, um sie niederzuschreiben. Und genauso schwer, um sie auszusprechen.

Doch jetzt, da ich hier saß, allein mit dem Regen, der gegen die Fenster prasselte, und diesem Buch, begann sich etwas in mir zu lösen. Ich griff nach einem Stift und setzte ihn auf das Papier. Die ersten Worte flossen zögerlich, als ob sie den langen Weg aus meinem Inneren erst finden müssten. Es waren keine großen Gedanken, keine tiefgründigen Einsichten. Nur kleine Fragmente, Erinnerungen und Gefühle, die ich bisher versuchte zu verdrängen.

Liebe Mama, schrieb ich und hielt inne. Schon dieser einfache Satz ließ meinen Atem stocken. Ich wusste, dass ich über sie schreiben musste – über meine Mutter; über den Verlust, den ich immer noch nicht ganz verarbeitet hatte. Und doch fühlte es sich so schwer an. So endgültig.

Ich setzte den Stift erneut an und begann, die Gedanken zu Papier zu bringen, die ich so lange in mir getragen hatte. Ich schrieb über die kleinen Dinge, die ich an ihr vermisste. Ihr Lächeln. Ihren Duft. Und wie sie mich in der Arm genommen hatte, wenn die Welt zu grausam wurde. Es war, als ob die Worte, die ich in mein Herz eingeschlossen hatte, nun endlich einen Weg nach draußen fanden. Sie wurden befreit.

Die Zeit verging unbemerkt und als ich endlich aufblickte, war es draußen bereits dunkel geworden. Das Café war ruhig und die wenigen Gäste, die noch geblieben waren, schienen sich in ihre eigenen Gedanken zurückgezogen zu haben. Ich schloss das Notizbuch und legte es achtsam zur Seite, als ob es einen wertvollen Schatz enthielte. Irgendwie tat es das auch. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, einen Teil meiner Trauer loszulassen, auch wenn es nur ein kleiner Schritt war. Aber es war wenigstens ein Schritt. Der erste Schritt.

Die Tür des Cafés öffnete sich und eine kühle Brise drang herein. Ich hob den Blick und sah Eliot eintreten. Er schüttelte den Regen von seinem Schirm und blickte sich um, bis seine Augen auf mir ruhten.

– Heute bist du aber ziemlich spät dran – sagte ich, als er sich auf den Hocker am Tresen setzte. – Und dann setzt du dich noch an einen falschen Platz.

– Der Regen hat mich aufgehalten – antwortete er und fuhr sich durch das nasse Haar. – Und dieser Platz gefällt mir irgendwie besser. Von hier aus kann ich deine Schönheit noch genauer betrachten. – Ich spürte, wie meine Wangen rot anliefen. – Es war sehr schwer, eine Blume zu finden, die den Sturm überlebt hat.

Ich hob eine Augenbraue.

– Hast du es trotzdem geschafft?

Eliot grinste und zog eine kleine, weiße Rose aus seiner Jacke. Die Blume war leicht zerzaust vom Regen, aber dennoch wunderschön. Er reichte sie mir und ich nahm sie sehr vorsichtig entgegen, als ob sie aus Glas wäre.

– Eine weiße Rose – murmelte ich und drehte die Blume in meinen Händen.

– Sie steht für Frieden und Hoffnung. Ich dachte, sie passt zu dir.

Ich lächelte schwach und stellte die Rose in eine Vase auf dem Tresen.

– Danke, Eliot. Sie ist wunderschön.

Aber nicht so wunderschön, wie eine schwarze Rose, dachte ich. Eine schwarze Rose, die meine Selle widerspiegeln würde.

Er beobachtete mich einen Moment lang schweigend. Als würde er versuchen, in mir zu lesen. Meine Gedanken zu ergründen, die ich so sorgfältig vor der Welt verbarg.

– Stella, wie geht es dir?

Seine Stimme war leise. Fast zögerlich. Ich zuckte zusammen und sah ihn an.

– Warum fragst du?

– Weil du bedrückt aussiehst – sagte er ehrlich. – Und ich mache mir Sorgen.

Für einen Moment war ich versucht, seine Sorge einfach abzuwinken. So wie ich es bei allen anderen auch tat. Es war einfacher, manche Dinge für sich zu behalten; sich hinter einer Mauer der Höflichkeiten und Alltagsgesprächen zu verstecken. Aber etwas an seiner Art, wie er mich anstarrte, ließ diese Mauer langsam zerfallen.

– Ich denke viel über meine Mutter nach. In letzter Zeit besonders viel.

Eliot schwieg, aber er rutschte auf seinem Hocker näher an mich heran, als wollte er mir die Möglichkeit geben, mehr zu sagen, wenn ich es wollte. Sein Schweigen war einladend, nicht drängend.

– Sie war alles für mich – fuhr ich fort, meine Worte zum ersten Mal sehr überlegt und sorgfältig wählend. – Als sie starb, habe ich einen Teil von mir selbst verloren. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich diesen Teil nie wiederfinden werde. Es ist so, also ob die Trauer mich in einem Nebel gefangen hält und ich weiß nicht, wie ich da rauskommen soll.

Eliot nickte, als könnte er genau verstehen, was ich meinte.

– Ich verstehe – sagte er leise. – Es gibt Tage, an denen man einfach nicht weiß, wie man weitermachen soll. Aber ... es wird besser. Langsam, aber es wird besser.

Ich sah ihn an und spürte, wie eine Welle von Zuneigung und Dankbarkeit durch mich strömte. Es war selten, dass jemand wirklich verstand, was in mir vorging. Eliot war anders. Er versuchte nicht, mich aufzuheitern oder mir Ratschläge zu geben, die sich hohl anfühlten. Es war einfach da. Und es war mehr, als ich von den meisten anderen erwarten konnte.

– Danke – flüsterte ich und meine Stimme brach leicht. Ich spürte, wie eine Träne meiner Wange entlang hinunterfloss. – Danke, dass du da bist.

Eliot hob seine Hand hoffnungsvoll, als wollte er die Träne in meinem Gesicht auf die Seite wischen. Doch er zog sie zurück.

– Du bist nicht allein, Stella – sagte er stattdessen. – Du musst das nicht alleine durchstehen.

Ich starrte seine Hand an und überlegte, wie es sich wohl anfühlen würde, diese an meiner Haut zu spüren. Ein Funken Hoffnung glomm in mir auf. Vielleicht war ich wirklich nicht so allein, wie ich dachte. Vielleicht gab es jemanden, der bereit war, diesen Weg mit mir zu gehen. Egal wie steinig er war.

Als Eliot das Café verließ, blieb ich noch eine Weile an meinem Platz stehen und dachte über das nach, was er gesagt hatte. Die weiße Rose in der Vase neben mir schien ein leichtes Leuchten auszustrahlen, als ob sie mir sagen wollte, dass es einen Weg aus der Dunkelheit gab – einen Weg, den ich nicht allein gehen musste.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich ein wenig leichter.

Wenn er mir keine Blumen schenkt, dann will ich ihn nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt