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Der Ruf des Mondes

Ich atmete tief ein und spürte, wie die kühle Nachtluft meine Lungen füllte. Von hier oben, hoch über dem Schlossgarten auf dem kleinen Balkon meines Schlafgemachs, konnte ich die weiten Ebenen unseres Königreichs überblicken. Die Felder, die sich bis zum Horizont erstreckten, waren in das silberne Licht des Vollmondes getaucht. Es war eine perfekte Nacht, so ruhig und friedlich, dass sie mir fast unwirklich vorkam.

Doch in mir drin war nichts ruhig. Ganz im Gegenteil.

Ein Knoten der Anspannung hatte sich in meiner Brust festgesetzt, seitdem Vater mir heute Morgen die Nachricht überbracht hatte. „Ein Bündnis mit dem Clan der Nordwölfe", hatte er gesagt, als wäre es nichts weiter als eine geschäftliche Entscheidung. Für ihn war es das auch. Für mich bedeutete es, dass mein Leben sich unwiderruflich ändern würde.

„Sie kommen morgen an", hatte er hinzugefügt, als ich sprachlos dagestanden und versuchte hatte, die Worte zu verarbeiten. „Zwei Abgesandte. Ihre Anführer. Du wirst ihnen höflich begegnen, Aylin. Es ist wichtig, dass wir Frieden mit ihnen schließen."

„Warum ich?" hatte ich gefragt. Eine dumme Frage, wie ich nun wusste, denn die Antwort lag auf der Hand.

„Weil du die Prinzessin bist." Sein Blick war kalt, sein Ton entschlossen. „Dein Platz ist an meiner Seite, und eines Tages wirst du dieses Reich führen. Das ist deine Pflicht."

Pflicht. Dieses Wort verfolgte mich seit meiner Kindheit. Als einziges Kind des Königs war mein Leben von Erwartungen durchzogen. Ich musste lernen, wie man regiert, wie man Entscheidungen trifft, die das Schicksal tausender Menschen beeinflussen. Aber niemand hatte mir beigebracht, wie ich mit der Enge in meiner Brust umgehen sollte. Wie ich mit dem Gefühl leben sollte, dass mein Leben nie wirklich mir gehören würde.

Ich legte die Hand auf die steinige Brüstung und ließ meinen Blick in die Ferne schweifen. Ein leises Flüstern ging durch den Wind, als würde er mir etwas sagen wollen, das ich nicht verstand. Unter meinen Füßen fühlte ich das sanfte Zittern des alten Steins, als ob das Schloss selbst tief atmete, zusammen mit der Erde, dem Wind und dem Mond über mir. Alles schien lebendig, doch in mir war nur eine lähmende Leere.

Der Clan der Nordwölfe. Geschichten über sie hatte ich mein ganzes Leben gehört. Wilde, mächtige Krieger, die sich bei Vollmond in Wölfe verwandelten. In unserer Welt existierten viele magische Wesen, doch die Werwölfe hatten etwas Unberechenbares, etwas Rohes und Wildes, das die Fantasie jedes Kindes anheizte. Ihre Kämpfer sollten unbesiegbar sein, ihre Magie war in Blut und Knochen verankert. Und morgen würde ich ihnen gegenüberstehen.

Ich konnte die Angst nicht abschütteln. Nicht, weil ich befürchtete, dass sie uns etwas antun würden – Vater hatte klargemacht, dass sie kamen, um Frieden zu schließen – sondern weil ich wusste, dass mein Leben ab morgen in eine Richtung gelenkt werden würde, die ich nicht kontrollieren konnte.

„Aylin?"

Die sanfte Stimme meiner Zofe riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und sah Lila im Türrahmen stehen, ihre dunklen Augen schimmerten im Licht der Fackeln, die den Flur erhellten.

„Ist alles in Ordnung?" Sie trat einen Schritt auf mich zu und blickte mich besorgt an. „Du siehst blass aus."

„Alles ist gut", log ich und schenkte ihr ein schwaches Lächeln. „Ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen."

Lila runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Sie kannte mich gut genug, um zu wissen, wann ich mich zurückzog, doch sie respektierte meinen Wunsch nach Ruhe. „Möchtest du, dass ich dir etwas zu trinken bringe?"

„Nein, danke." Ich schüttelte den Kopf. „Ich brauche nur einen Moment für mich."

Lila nickte zögernd und verschwand leise wieder aus dem Raum. Als ich wieder allein war, sank ich gegen die Brüstung und ließ meinen Kopf auf die Arme sinken. Die Ereignisse des Tages drehten sich in meinem Kopf, wie Blätter in einem Sturm.

Ich schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Doch egal, wie sehr ich mich bemühte, der Gedanke an die beiden Männer, die morgen in unser Schloss eintreten würden, ließ mich nicht los. Zwei Werwölfe. Anführer eines Clans, dessen Magie so alt war wie die Berge selbst.

Und was wollte Vater von mir? Dass ich lächelte, höflich war und vielleicht sogar... was? Dass ich einen von ihnen heiratete, um den Frieden zu besiegeln? Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken bei dem Gedanken. Ich wusste, dass es nicht ungewöhnlich war. Königliche Ehen wurden aus politischen Gründen geschlossen, das hatte nichts mit Liebe zu tun. Doch die Vorstellung, mein Leben an jemanden zu binden, den ich nicht kannte, der zudem ein Werwolf war – das war zu viel.

Unwillkürlich fragte ich mich, wie sie wohl sein würden. Wilde Bestien? Oder Männer, die nur im Mondschein ihre wahre Natur zeigten? Hatten sie Kontrolle über das, was sie waren, oder beherrschte die Bestie sie?

Ich hatte keine Antworten, nur unzählige Fragen, und sie alle drehten sich in meinem Kopf, ließen mir keine Ruhe. Schließlich stieß ich mich von der Brüstung ab und ging zurück in mein Schlafgemach. Der Mond strahlte durch die Fenster, warf silberne Muster auf den Boden, als wollte er mich verhöhnen.

„Es ist nicht fair", flüsterte ich in die Stille des Raumes, aber niemand antwortete.

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Der Morgen kam schneller, als ich gehofft hatte. Ich hatte kaum geschlafen und fühlte mich wie betäubt, als ich mich in mein bestes Kleid zwängte – ein dunkelblaues Gewand mit goldenen Verzierungen, das mir immer zu schwer vorkam. Es war das Kleid einer Prinzessin, und heute musste ich eine Prinzessin sein, egal, wie wenig ich mich danach fühlte.

Mein Herz hämmerte in meiner Brust, als ich die große Halle betrat, wo die Delegation der Nordwölfe empfangen werden sollte. Vater stand bereits da, seine breite Statur furchteinflößend wie immer, doch sein Gesicht war ruhig. Er wusste, was er tat, und das beruhigte mich seltsamerweise ein wenig. Auch wenn ich ihn manchmal für seine Kälte hasste, war er dennoch ein guter König.

Und dann kamen sie.

Die großen Holztüren öffneten sich mit einem dumpfen Knarren, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Zwei Männer traten in die Halle, und mit ihnen eine Präsenz, die die Luft dicker werden ließ.

Der erste war groß und breit gebaut, mit einem scharfen Blick, der jede Bewegung im Raum erfasste. Sein Haar war dunkel, fast schwarz, und fiel ihm in sanften Wellen auf die Schultern. Er trug eine schlichte Lederrüstung, die ihm ein fast königliches Aussehen verlieh, und seine goldenen Augen waren ruhig, fast sanft. Er war kein Monster, das sah ich sofort. Aber er strahlte eine Autorität aus, die niemand infrage stellen konnte. Das musste Lyall sein, der ältere der beiden Brüder.

Neben ihm schritt ein Mann, dessen Präsenz genauso mächtig war, aber auf eine ganz andere Art. Er war etwas schlanker, muskulöser, aber in seinen Bewegungen lag etwas Ungezähmtes, Wilderes. Sein Haar war heller, fast aschblond, und seine Augen funkelten in einem intensiven Blau. Er wirkte ungeduldig, als könnte er keine Sekunde stillstehen, als wäre in ihm ein Feuer, das jeden Moment ausbrechen konnte. Kael. Der jüngere Bruder.

Mein Atem stockte, als sie näherkamen, und in meinem Kopf drehte sich alles. Ihre bloße Anwesenheit zog mich in ihren Bann, und obwohl ich versuchte, meine Augen von ihnen abzuwenden, war ich wie gebannt.

„Prinzessin Aylin", sagte mein Vater mit seiner tiefen, durchdringenden Stimme. „Darf ich dir Lyall und Kael vorstellen, die Anführer des Clans der Nordwölfe."

Lyall neigte höflich den Kopf, während Kael mich mit einem durchdringenden Blick musterte, als wollte er jede Faser meines Wesens durchschauen.

„Es ist mir eine Ehre", sagte Lyall mit einer Stimme, die sanft, aber voller Macht war. „Wir sind hier, um Frieden zu schließen. Und um zu sehen, was die Zukunft für uns bereithält."

Ich zwang mich, zu lächeln, doch in mir tobte ein Sturm, den ich nicht verstehen konnte.

Mondfluch: Zwischen zwei HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt