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Die Maske der Wahrheit

Die Tage nach Kaels Verschwinden fühlten sich an wie ein langer, zäher Alptraum. Obwohl ich die Entscheidung getroffen hatte, nicht mit ihm zu fliehen, hatte sich nichts in mir beruhigt. Im Gegenteil. Jeder Schritt, den ich im Palast machte, fühlte sich an wie ein weiterer Schritt in Richtung eines Abgrunds, den ich noch nicht sehen konnte. Mein Herz schlug schwer in meiner Brust, als ob es wusste, dass diese Ruhe trügerisch war – dass es nur eine Frage der Zeit war, bis alles um mich herum zusammenbrach.

Mein Vater hatte sich in den letzten Tagen ungewöhnlich ruhig verhalten. Er war beschäftigt mit der Vorbereitung auf die Verhandlungen mit Eldara, und der Druck, die bevorstehende Heirat zu arrangieren, lastete schwer auf seinen Schultern. Doch etwas an seiner Ruhe beunruhigte mich. Es war, als wüsste er mehr, als er zugeben wollte.

„Prinzessin Aylin, Euer Vater erwartet Euch", sagte eine der Dienerinnen, als sie sich in einer tiefen Verbeugung vor mir neigte.

Ich nickte und folgte ihr, meine Gedanken rasend. Was würde er von mir wollen? Würde er endlich Klartext sprechen? Oder würde er weiterhin in Andeutungen und Halbwahrheiten sprechen, um mich in der Dunkelheit zu lassen?

Als ich den Thronsaal betrat, saß mein Vater bereits auf seinem hohen Stuhl. Seine Augen waren hart, sein Gesicht ernst, und ich wusste sofort, dass dies kein gewöhnliches Gespräch werden würde. Es lag eine Schwere in der Luft, die ich nicht einordnen konnte.

„Vater", begrüßte ich ihn und senkte den Kopf leicht. „Ihr habt nach mir gerufen."

Er betrachtete mich einen Moment lang schweigend, bevor er sprach. „Aylin, es gibt Dinge, über die wir sprechen müssen. Dinge, die du wissen musst – über unsere Zukunft, über das Königreich."

Mein Magen zog sich zusammen, als die Worte von Kael in meinem Kopf widerhallten. Dein Vater führt einen Krieg gegen uns. Hatte er die Wahrheit gesagt? War mein Vater tatsächlich bereit, so weit zu gehen? Oder war das nur ein weiterer Versuch, mich zu manipulieren?

„Was genau wollt Ihr, dass ich weiß?", fragte ich vorsichtig.

Mein Vater seufzte schwer und stand auf. Er ging zum Fenster, schaute in die Ferne und begann dann langsam zu sprechen. „Die Welt, in der wir leben, ist im Wandel. Die Grenzen sind unsicher, Bündnisse brechen, und die Wölfe – sie werden immer dreister. Ihr Einfluss wächst, und ich kann nicht zulassen, dass sie das Gleichgewicht stören."

„Die Wölfe?", wiederholte ich, obwohl ich bereits ahnte, worauf er hinauswollte. „Ihr wollt gegen sie vorgehen?"

Er drehte sich zu mir um, seine Augen kalt und entschlossen. „Es bleibt mir keine andere Wahl. Sie bedrohen unser Königreich, unser Volk. Es gibt Gerüchte, dass sie sich zusammentun, dass sie Pläne schmieden, uns zu stürzen. Diese... Wesen können nicht länger unkontrolliert durch unsere Lande streifen."

Sein Blick ruhte auf mir, als ob er von mir erwarten würde, diese Entscheidung ohne Frage zu akzeptieren. Doch in mir regte sich ein tiefes Unbehagen. Kaels Worte hatten in mir Zweifel gesät, und jetzt wuchs dieser Zweifel wie ein starker, dunkler Baum in meinem Inneren.

„Vater", begann ich vorsichtig, „es gibt doch sicher andere Wege. Diplomatie, Verhandlungen... Wir müssen nicht in den Krieg ziehen."

„Diplomatie?", wiederholte er, und in seiner Stimme lag eine Mischung aus Belustigung und Verachtung. „Mit diesen Bestien kann man nicht verhandeln, Aylin. Sie verstehen nur Stärke. Und wenn wir nicht stark sind, werden sie uns verschlingen."

Ich konnte spüren, wie sich meine Hände zu Fäusten ballten, wie meine Kehle sich zuschnürte. „Aber es gibt doch auch andere, friedliche Wölfe. Nicht alle von ihnen sind gefährlich. Nicht alle wollen kämpfen."

Mein Vater trat auf mich zu, seine Augen durchdringend. „Du weißt mehr, als du zugibst. Hat dich jemand beeinflusst? Wer hat dir das gesagt?"

Mein Atem stockte, und für einen Moment fühlte ich mich gefangen. Kael? Hatte ich mich selbst verraten? Hatte ich zu viel preisgegeben? Doch bevor ich etwas sagen konnte, fuhr er fort.

„Ich habe dich gewarnt, dich nicht mit diesen Kreaturen einzulassen. Du weißt, was auf dem Spiel steht. Das Königreich braucht dich. Und du wirst heiraten, um unsere Zukunft zu sichern."

Seine Worte waren ein kalter Schlag ins Gesicht, doch ich versuchte, die Fassung zu bewahren. „Ich verstehe meine Pflichten, Vater. Aber ich bin nicht sicher, ob dieser Krieg der richtige Weg ist. Wir könnten uns damit selbst zerstören."

Er schnaubte und drehte sich von mir weg, als hätte er genug von meinen Einwänden. „Das ist kein Krieg, den wir uns aussuchen, Aylin. Es ist ein Krieg, der uns aufgezwungen wird. Entweder wir kämpfen, oder wir gehen unter."

Eine dunkle Vorahnung legte sich über mein Herz, und ich spürte, wie das Gewicht der Welt auf meinen Schultern lastete. „Und was, wenn es nicht so ist, Vater? Was, wenn wir den falschen Weg gehen?"

Er drehte sich wieder zu mir um, seine Augen hart wie Stahl. „Du bist zu jung, um die Konsequenzen zu verstehen. Manchmal erfordert die Führung eines Königreichs harte Entscheidungen. Entscheidungen, die du eines Tages auch treffen musst."

Ich wollte widersprechen, wollte ihm sagen, dass er falsch lag, doch meine Stimme versagte mir. Ich fühlte mich gefangen zwischen meiner Loyalität zu meinem Vater und der wachsenden Erkenntnis, dass vielleicht etwas Schreckliches im Gange war, von dem ich nichts wusste.

Später an diesem Abend fand ich mich auf dem Balkon meines Zimmers wieder, den Blick in den dunklen Himmel gerichtet. Der Mond hing tief am Horizont, und das Mondlicht warf lange Schatten auf den Boden. Es war still, fast unnatürlich still. Selbst die Winde schienen innezuhalten, als ob die Natur auf das wartete, was kommen würde.

Ich fühlte mich zerrissen. Kael war fort, Lyall war bei mir, doch mein Herz fühlte sich leer und verloren an. Ich wusste nicht, wem ich vertrauen konnte. Meinem Vater? Kael? Oder sogar mir selbst? Jede Entscheidung, die ich traf, schien mich weiter in ein Netz aus Intrigen, Geheimnissen und Verrat zu ziehen.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ein leises Rascheln, kaum hörbar, doch genug, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. Ich drehte mich um und sah eine dunkle Gestalt, die im Schatten des Zimmers stand. Mein Herz setzte einen Schlag aus, doch als die Person ins Licht trat, erkannte ich ihn sofort.

„Lyall", flüsterte ich erleichtert. „Was tust du hier?"

Er trat auf mich zu, seine Bewegungen ruhig und kontrolliert wie immer. Doch ich konnte sehen, dass etwas ihn beunruhigte. Seine Stirn war leicht gerunzelt, und seine Augen funkelten im Mondlicht.

„Ich wollte sicherstellen, dass es dir gut geht", sagte er leise, sein Blick durchdringend.

Ich nickte, doch in meinem Inneren tobte ein Sturm. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Lyall. Mein Vater... er plant etwas, das ich nicht verstehen kann. Und ich fürchte, dass ich bald eine Entscheidung treffen muss, die alles verändern wird."

Lyall legte eine Hand auf meine Schulter, und ich spürte die Wärme seiner Berührung. „Du bist nicht allein, Aylin. Egal, was passiert, ich werde an deiner Seite sein. Aber du musst vorsichtig sein. Dein Vater ist nicht der Einzige, der Pläne schmiedet."

Ich sah ihn überrascht an. „Was meinst du?"

Er zögerte, bevor er weitersprach. „Es gibt Kräfte, die im Verborgenen wirken. Kräfte, die das Königreich in den Abgrund reißen könnten. Und nicht alle Wölfe sind unsere Feinde."

Mein Herz begann schneller zu schlagen. „Weißt du mehr über Kaels Pläne?"

Lyall sah mir direkt in die Augen. „Kael will dich beschützen. Aber es gibt Dinge, die selbst er nicht kontrollieren kann. Die Wölfe sind nicht vereint, und es gibt welche, die alles tun würden, um ihre eigene Macht zu sichern. Du musst vorsichtig sein, wem du vertraust."

Die Worte hallten in meinem Kopf wider. Die Maske der Wahrheit, die ich so lange getragen hatte, begann zu bröckeln. Und ich wusste, dass ich bald eine Entscheidung treffen musste, die alles verändern würde.

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⏰ Letzte Aktualisierung: 11 hours ago ⏰

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