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Zwischen zwei Welten

Der nächste Morgen kam mit einer seltsamen Ruhe. Die Stürme der Nacht hatten sich verzogen, doch in mir tobte der gleiche Wirbel wie zuvor. Kael war verschwunden, als der erste Schimmer des Tageslichts den Himmel durchbrach, doch die Erinnerung an seine Nähe, an die Intensität seiner Worte, hielt mich wach und beunruhigte mich tief.

Ich konnte immer noch sein Flüstern hören, das durch meinen Geist hallte: „Etwas an dir treibt mich in den Wahnsinn." Es hatte eine düstere Schönheit in seinen Worten gelegen, eine Art dunkles Verlangen, das mich gleichermaßen angezogen und erschreckt hatte. Was genau wollte er damit sagen? Und warum hatte ich das Gefühl, dass er nicht nur über sich selbst sprach, sondern über uns beide – als wären wir durch etwas Unsichtbares miteinander verbunden?

Die Sonne stieg langsam über den Horizont, als ich mich aus dem Bett schob, ohne den Schlaf gefunden zu haben, nach dem ich mich gesehnt hatte. Meine Glieder fühlten sich schwer an, mein Geist war träge, doch ich wusste, dass der Tag vor mir lag und Pflichten riefen. Der Hof erwartete mich, und der Gedanke an den bevorstehenden Tag lastete wie ein Stein auf meiner Brust.

Als ich mich ankleidete, wanderten meine Gedanken zu Lyall. Während Kael wild und unberechenbar war, strahlte Lyall eine Ruhe aus, die mich gleichermaßen faszinierte. Seine Anwesenheit war wie ein sicherer Hafen in einem tobenden Sturm. Und doch fragte ich mich, ob diese Ruhe nur eine Maske war – eine Fassade, hinter der sich mehr verbarg, als er preisgab.

Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, während ich durch die weiten Hallen des Schlosses schritt. Die Diener gingen geschäftig ihren Aufgaben nach, und niemand schien Notiz von mir zu nehmen, was mir nur recht war. Ich wollte heute unsichtbar sein, mich in den Schatten verkriechen und herausfinden, was all diese neuen Gefühle in mir bedeuteten.

Doch meine Flucht in die Stille sollte nicht von Dauer sein. Als ich die große Halle betrat, spürte ich sofort, dass ich beobachtet wurde. Ein bekanntes Knistern lag in der Luft, und mein Magen verkrampfte sich, als ich meinen Blick hob und sah, wer dort stand.

Lyall.

Er wartete am anderen Ende des Saals, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, sein Blick fest auf mich gerichtet. Sein Gesicht war ausdruckslos, wie immer, doch in seinen Augen lag etwas, das ich nicht deuten konnte – eine Art stilles Verstehen, das mich verunsicherte.

„Prinzessin Aylin", begrüßte er mich, als ich näher kam, seine Stimme sanft, aber bestimmt. „Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen."

„Schlaf war mir leider nicht vergönnt", antwortete ich, bemüht, meine Stimme ruhig zu halten. „Die Stürme haben mich wachgehalten."

„Die Stürme der Nacht", murmelte er, fast als würde er wissen, dass ich von mehr als nur dem Wetter sprach. „Ja, sie haben auch mich wach gehalten."

Seine Augen suchten die meinen, und für einen Moment herrschte zwischen uns eine Stille, die schwerer war als jedes Wort. Da war etwas in seinem Blick, etwas, das mich dazu brachte, mich zu fragen, wie viel er wusste – oder wie viel er ahnte. Konnte er spüren, dass Kael mich in der Nacht aufgesucht hatte? War es möglich, dass er wusste, was zwischen uns passiert war, oder was ich für beide Brüder empfand?

„Ich habe nach Euch gesucht", sagte er schließlich, und seine Worte brachten mich zurück in die Gegenwart. „Es gibt eine Angelegenheit, über die ich mit Euch sprechen muss."

„Worum geht es?", fragte ich vorsichtig.

Lyall zögerte, als würde er die richtigen Worte suchen. „Es geht um meinen Bruder."

Natürlich. Kael. Der Name hing ungesagt zwischen uns, und ich konnte den leichten Hauch von Anspannung in der Luft spüren.

„Kael ist... kompliziert", begann er, sein Ton sachlich, aber doch irgendwie beschützend. „Er handelt oft impulsiv und lässt sich von seinen Emotionen leiten. Was er tut, ist nicht immer im besten Interesse des Clans – oder in Eurem."

Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. „Was wollt Ihr damit sagen?"

Lyall trat einen Schritt näher, seine Augen unverwandt auf meine gerichtet. „Ich möchte Euch warnen, Prinzessin. Kael hat eine dunkle Seite, die er oft selbst nicht kontrollieren kann. Er kämpft mit dem Fluch des Wolfes auf eine Weise, die selbst für uns ungewöhnlich ist."

„Der Fluch des Wolfes?" Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch ich konnte die Neugier und das Entsetzen darin nicht verbergen.

„Ja", bestätigte Lyall mit einem ernsten Ausdruck. „Der Mond beeinflusst uns alle, aber bei Kael... bei ihm ist es anders. Der Kampf, den er führt, ist heftiger. Die Bestie in ihm ist wilder, unbezähmbarer."

Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. „Und Ihr? Wie ist es bei Euch?"

Lyall hielt meinen Blick fest, und in seinen Augen lag eine Ruhe, die mir versicherte, dass er die Kontrolle hatte – über sich selbst, über das, was in ihm lauerte. „Ich habe gelernt, mit dem Wolf in mir zu leben. Er ist ein Teil von mir, aber ich lasse ihn nicht über mich herrschen."

„Warum erzählt Ihr mir das?", fragte ich, mein Herz jetzt vor Neugier und Besorgnis gleichermaßen pochend.

Lyall senkte kurz den Blick, bevor er mich wieder ansah. „Weil ich sehe, wie Kael Euch ansieht. Und ich sehe auch, wie Ihr ihn anseht. Er ist gefährlich, Aylin. Ich sage das nicht als sein Bruder, sondern als jemand, der Euch nicht in Gefahr sehen will."

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich wusste, dass Kael wild und unberechenbar war, aber ihn als Gefahr zu sehen... das war etwas, worüber ich noch nicht nachgedacht hatte. Trotzdem wollte ein Teil von mir widersprechen, ihn verteidigen. Kael war mehr als nur ein wildes Tier. Er hatte eine Tiefe, eine Dunkelheit, die mich auf eine Weise faszinierte, die ich nicht verstand.

„Ich werde vorsichtig sein", versprach ich leise, obwohl ich nicht sicher war, ob ich es wirklich so meinte.

Lyall schien mit meiner Antwort nicht ganz zufrieden zu sein, doch er ließ es dabei bewenden. „Ihr seid wichtig für das Schicksal dieses Königreichs, Prinzessin. Und für mich."

Die letzte Bemerkung ließ meine Atmung stocken. „Für Euch?"

Er trat noch einen Schritt näher, seine Augen dunkel und ernst. „Ja. Ihr seid mehr als nur ein politisches Bündnis für mich. Ihr bedeutet mir etwas, Aylin."

Ich spürte, wie mein Herz gegen meine Rippen schlug, und die Hitze in meinem Gesicht verriet mir, dass er wusste, welche Wirkung seine Worte auf mich hatten. „Lyall, ich..."

„Sagt jetzt nichts", unterbrach er mich sanft. „Ihr müsst mir nichts erwidern. Aber ich wollte, dass Ihr es wisst."

Ich stand wie erstarrt vor ihm, unfähig, die Worte zu finden, die all das ausdrücken könnten, was in mir tobte. Lyall, der ruhige, besonnene Krieger, offenbarte mir seine Gefühle, während Kael, der unbändige Wolf, auf eine Art mein Herz in Brand setzte, die ich nicht kontrollieren konnte. Zwei Welten, zwei Männer – und ich dazwischen.

„Ich werde immer an Eurer Seite sein", sagte Lyall schließlich, und sein Ton war eine Mischung aus Versprechen und Bedauern. „Egal, was geschieht."

Mit diesen Worten ließ er mich allein, und als er ging, fühlte es sich an, als hätte er etwas Kostbares hinterlassen – und gleichzeitig etwas Verlorenes mitgenommen.

Ich blieb in der großen, leeren Halle stehen, und die Stille um mich herum war nun lauter als je zuvor. Mein Herz kämpfte einen Krieg, den ich nicht gewinnen konnte. Egal, wie ich mich entschied, der Schmerz schien unvermeidlich.

Mondfluch: Zwischen zwei HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt