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Im Schatten des Mondes

Die Dunkelheit des Schlosses verschluckte uns, als Lyall und ich zurückkehrten. Sein Griff um meinen Arm war fest, aber nicht unangenehm. Es war, als wollte er sicherstellen, dass ich bei ihm blieb, dass ich nicht zurück in die Nacht und zu Kael floh. Kael, der jetzt mit dem Wolf in sich kämpfte. Kael, dessen wilde Augen mich in den Bann gezogen hatten.

Wir sprachen nicht, als wir die Gänge entlanggingen. Der Vollmond schien durch die hohen Fenster und warf lange Schatten auf den Marmorboden. Alles schien so still und friedlich, aber ich spürte, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm war. In mir tobten die Gedanken, wirbelten durcheinander wie Blätter in einem Herbststurm.

„Du bist zu nahe an ihm", sagte Lyall plötzlich, seine Stimme leise, aber schneidend.

Ich sah ihn überrascht an. „Was meinst du?"

Er hielt inne, und als er mich ansah, lag etwas Schweres, fast Trauriges in seinen Augen. „Kael. Du weißt, was er ist, was er sein könnte. Es ist gefährlich, Aylin. Besonders in Nächten wie dieser."

„Er ist nicht nur eine Gefahr, Lyall", erwiderte ich, meine Stimme schärfer, als ich beabsichtigt hatte. „Er ist mehr als das."

Lyall seufzte tief und ließ meinen Arm los. „Vielleicht. Aber du kennst nicht die ganze Wahrheit."

„Was für eine Wahrheit?", fragte ich und spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte. „Ihr beide redet immer nur in Rätseln. Was ist es, das ich nicht verstehe?"

Lyall zögerte, und für einen Moment schien es, als wolle er mir alles erzählen – all die Geheimnisse, die in den Tiefen seiner Augen verborgen lagen. Doch stattdessen schüttelte er nur den Kopf und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Es ist kompliziert, Aylin. Du musst mir vertrauen. Kael ist gefährlich, besonders für dich."

Ich wollte protestieren, doch bevor ich etwas sagen konnte, hörten wir das Geräusch von schnellen Schritten, die sich uns näherten. Eine der Dienerinnen kam um die Ecke gerannt, außer Atem und mit weit aufgerissenen Augen.

„Prinzessin!", rief sie und verneigte sich tief vor mir. „Es gibt Neuigkeiten von den Grenzlanden. Der König hat befohlen, Euch sofort zu ihm zu bringen."

Ich spürte, wie sich eine kalte Hand um mein Herz legte. Nachrichten von den Grenzlanden bedeuteten nie etwas Gutes. Der Konflikt mit den Nachbarreichen war schon seit Jahren angespannt, und jede Nachricht von dort verhieß Krieg. Doch warum wollte mein Vater mich in einer solchen Stunde sehen?

„Ich komme sofort", sagte ich und nickte der Dienerin zu, die sich schnell wieder zurückzog.

Ich wandte mich zu Lyall, der mich mit ernstem Blick ansah. „Du solltest vorsichtig sein, Aylin. Egal, was geschieht – denk daran, wem du vertraust."

Seine Worte hallten noch in meinem Kopf, als ich den Thronsaal betrat. Die schweren Türen schlossen sich hinter mir mit einem dumpfen Geräusch, und ich spürte, wie die Luft hier drinnen kühler und dichter war, als wäre sie von den Sorgen und Ängsten meines Vaters beschwert.

Der König saß auf seinem Thron, umgeben von Beratern und Boten, die Karten und Schriftrollen in den Händen hielten. Als er mich sah, winkte er mich näher heran. Sein Gesicht war angespannt, tiefe Falten durchzogen seine Stirn, und in seinen Augen lag etwas, das ich nur selten bei ihm gesehen hatte: Sorge.

„Aylin", begann er, als ich vor ihn trat. „Wir haben eine dringende Nachricht erhalten. Es gibt Berichte über fremde Truppenbewegungen an unseren Grenzen. Ich brauche deine Unterstützung."

Ich runzelte die Stirn. „Meine Unterstützung? Was kann ich tun?"

Er seufzte tief und stand auf, trat näher zu mir. „Es geht nicht nur um den Krieg, meine Tochter. Es geht um die Bündnisse, die wir schmieden müssen. Das Nachbarreich hat uns ein Angebot gemacht... ein Heiratsangebot."

Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Heirat?"

„Ja", bestätigte er, und sein Blick wurde schwerer. „Ein starkes Bündnis mit einem anderen Königreich könnte den Frieden sichern. Du würdest unser Volk schützen."

Die Worte trafen mich wie ein Schlag. Heiraten, um das Königreich zu retten? Ich hatte immer gewusst, dass dies eines Tages kommen könnte, aber ich hatte nie geglaubt, dass es so schnell geschehen würde. Noch vor wenigen Wochen war mein Leben von Freiheit geprägt, von Entscheidungen, die ich selbst treffen konnte. Doch jetzt fühlte ich mich, als wäre ich nichts weiter als eine Figur in einem größeren Spiel – ein Spiel, das ich nicht kontrollieren konnte.

„Und wenn ich ablehne?" fragte ich leise, obwohl ich die Antwort bereits wusste.

Mein Vater sah mich lange an, und in seinem Blick lag eine tiefe Traurigkeit. „Dann riskieren wir den Krieg. Es ist deine Entscheidung, Aylin, aber die Konsequenzen könnten verheerend sein."

Die Verantwortung lastete plötzlich schwer auf meinen Schultern, und ich spürte, wie meine Kehle trocken wurde. „Wer... wer ist der Mann, den ich heiraten soll?"

„Es ist Prinz Darius von Eldara", sagte er, und ich spürte, wie mein Herz noch schneller schlug. Eldara war eines der mächtigsten Reiche in der Region, und ein Bündnis mit ihnen könnte tatsächlich den Frieden sichern. Aber zu welchem Preis?

Ich nickte langsam, unfähig, klare Gedanken zu fassen. „Ich werde darüber nachdenken."

Mein Vater legte mir sanft die Hand auf die Schulter. „Das ist alles, was ich von dir verlange. Denk an dein Volk, an die Zukunft."

Ich verließ den Thronsaal in einem Zustand völliger Verwirrung. Meine Gedanken rasten. Eine arrangierte Ehe? Jetzt, inmitten all dessen, was in meinem Leben geschah? Und wie sollte ich eine Entscheidung treffen, wenn mein Herz zwischen Kael und Lyall hin- und hergerissen war?

Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, erwartete ich die Stille der Nacht, doch das Schicksal schien mir keine Ruhe gönnen zu wollen.

Kael wartete dort. Im Schein des Mondlichts lehnte er gegen das Fenster, seine Silhouette scharf und imposant vor dem Hintergrund der nächtlichen Welt. Seine Augen glommen im Dunkeln, und ich spürte sofort die Spannung, die in der Luft hing.

„Du solltest nicht hier sein", flüsterte ich, obwohl mein Herz schneller schlug bei seinem Anblick.

„Ich weiß", sagte er leise, und in seiner Stimme lag etwas Wildes, etwas Ungeduldiges. „Aber ich musste dich sehen."

„Kael..."

Er kam näher, und ich spürte die Hitze seines Körpers, als er vor mir stand. „Was hat der König gesagt?"

Ich zögerte. Konnte ich ihm die Wahrheit sagen? Würde er verstehen, was es bedeutete, wenn ich diese Entscheidung treffen musste?

„Er will, dass ich Prinz Darius heirate", gestand ich schließlich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Kaels Augen verdunkelten sich, und ich sah, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. „Darius? Der Prinz von Eldara?"

Ich nickte, unsicher, wie er reagieren würde.

„Du kannst das nicht tun", sagte er schließlich, seine Stimme leise, aber voller Intensität. „Du darfst nicht mit ihm gehen."

„Es geht nicht darum, was ich will", flüsterte ich, und meine Augen brannten. „Es geht um das Königreich. Um Frieden."

Kael schnaubte verächtlich. „Frieden. Und was ist mit dir? Was ist mit dem, was du willst?"

Ich spürte, wie sich die Tränen in meinen Augen sammelten. „Kael, es ist nicht so einfach. Ich kann nicht nur an mich denken."

Er trat noch näher, bis unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. „Und was, wenn ich es einfacher mache?"

Bevor ich reagieren konnte, griff er nach meiner Hand, zog mich näher zu sich und flüsterte: „Lauf mit mir weg, Aylin. Lass alles hinter dir. Das Schloss, die Politik, die Pflichten – all das. Lauf weg mit mir, in die Wildnis. Wir könnten frei sein."

Seine Worte trafen mich wie ein Blitz. Weglaufen? Alles hinter mir lassen? Es war verlockend, unwiderstehlich, und doch... war es möglich?

Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust, und die Welt schien sich um mich zu drehen. Konnte ich das wirklich tun? Mit Kael fliehen, ein Leben in Freiheit führen, fernab von allem, was ich jemals gekannt hatte?

Doch tief in mir wusste ich: Es würde keine einfache Antwort geben.

Mondfluch: Zwischen zwei HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt