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Der Ruf der Bestien

Der Hof war still, als ich in den kalten Morgen trat. Über mir hing der Himmel, ein blasses Grau, das die Wärme des aufkommenden Tages verhieß, doch in mir war es kälter als jemals zuvor. Meine Finger krallten sich in den Stoff meines Kleides, als hätte das allein die Macht, mich aufrecht zu halten.

Die Begegnung mit den beiden Brüdern hatte meinen Kopf mit so vielen widersprüchlichen Gefühlen gefüllt, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ihre Präsenz lastete immer noch schwer auf mir, wie eine unsichtbare Hand, die mein Herz umklammerte.

Lyall und Kael. Zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten – und doch trugen beide das gleiche, unheilvolle Schicksal in sich. Werwölfe. Ich hatte es ihnen nicht angesehen, zumindest nicht sofort. Aber da war etwas gewesen, das mich unruhig gemacht hatte, ein unterdrücktes Flimmern, das wie ein Knistern in der Luft hing, sobald sie den Raum betreten hatten. Die Art, wie ihre Augen zu glühen schienen, selbst im gedämpften Licht der Halle, und wie sie sich bewegten – wie Raubtiere, die ständig auf der Lauer waren.

Mein Vater hatte sich nach dem ersten Treffen sofort in seine Beratungen zurückgezogen. Für ihn war das alles einfach, politisch. Er sah die Werwölfe nicht als Bedrohung, sondern als Schachfiguren, die er zu seinem Vorteil nutzen konnte. Für mich war es anders. Mein Instinkt schrie danach, Abstand zu halten. Und doch zog mich etwas zu ihnen hin, etwas, das ich weder verstand noch kontrollieren konnte.

Ich musste tief durchatmen, um das Zittern in meinen Händen zu unterdrücken. In der Ferne hörte ich das Echo von Stimmen, die vom Übungsplatz herüberwehten. Die Soldaten trainierten bereits für den bevorstehenden Krieg – ein Krieg, den wir hofften, durch das Bündnis mit dem Clan der Nordwölfe zu verhindern.

Ich wollte die anderen meiden. Heute war kein Tag für höfische Pflichten oder falsche Freundlichkeit. Stattdessen zog es mich in die stillen Gärten des Schlosses, wo ich allein mit meinen Gedanken sein konnte. Doch als ich den Pfad entlangging, der durch die dichten Hecken führte, fühlte ich plötzlich, dass ich nicht mehr allein war.

Meine Schritte verlangsamten sich, während ein leises Prickeln über meine Haut wanderte. Da war es wieder, dieses Gefühl. Ich konnte es nicht beschreiben, aber es war, als würde die Luft um mich herum dichter werden. Als würde etwas Unsichtbares mich beobachten.

„Prinzessin Aylin."

Die Stimme kam aus den Schatten, tief und rau, und schickte einen Schauer über meinen Rücken. Ich drehte mich langsam um und sah ihn. Kael.

Er lehnte lässig an einem Baumstamm, als wäre er schon eine Weile da gewesen, hatte mich vielleicht beobachtet. Sein Gesicht war nur halb im Licht, doch seine Augen blitzten wie das Blau eines stürmischen Himmels, intensiv und durchdringend. Sie schienen mich festzuhalten, mich zu durchdringen, als könnte er jede verborgene Angst in mir lesen.

„Ihr seid früh unterwegs", sagte er, und ein leichtes, fast spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Vermeidet ihr den Hof genauso wie ich?"

Ich schluckte schwer. „Ich suche nur... etwas Ruhe."

„Ruhe", wiederholte er, als wäre das Wort für ihn fremd. Dann stieß er sich vom Baum ab und kam auf mich zu, mit langsamen, fließenden Bewegungen, die an einen Jäger erinnerten, der seine Beute nicht verschrecken wollte. „Ich habe gehört, dass ihr nicht sehr begeistert davon seid, uns hier zu haben."

Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück. „Das habe ich nie gesagt."

„Ihr habt es nicht sagen müssen." Kaels Blick verfinsterte sich, und in seinem Gesicht blitzte für einen Moment etwas Unbeherrschtes auf, das mir einen Stich der Angst versetzte. „Menschen wie du können uns nicht verstehen. Für euch sind wir nichts als Tiere. Monster."

Seine Worte schnitten tief. Es war, als hätte er in meine Gedanken gesehen, als hätte er genau gewusst, was ich in den letzten Stunden gefühlt hatte. Doch bevor ich mich wehren konnte, trat er noch näher, und plötzlich spürte ich die Hitze seiner Präsenz, das Knistern der Energie, die ihn umgab, als wäre er nur einen Atemzug davon entfernt, die Kontrolle zu verlieren.

„Ihr irrt euch", flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm.

„Tatsächlich?" Er neigte den Kopf leicht zur Seite, und sein Lächeln war nun verschwunden. „Vielleicht irrt ihr euch, Prinzessin."

Für einen Moment herrschte Stille zwischen uns. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, die Art von Nervosität, die einen Menschen befällt, wenn er weiß, dass er sich in der Nähe von etwas Gefährlichem aufhält. Aber es war nicht nur Angst, die ich spürte. Es war noch etwas anderes, etwas Unerklärliches. Kael strahlte eine rohe Anziehungskraft aus, die mich wider Willen zu ihm zog, als ob eine unsichtbare Kraft zwischen uns entstand.

„Warum seid ihr hier, Kael?" Meine Stimme klang ruhiger, als ich mich fühlte.

„Vielleicht wollte ich nur sehen, ob die Prinzessin wirklich so unnahbar ist, wie sie tut", sagte er mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen. „Oder vielleicht wollte ich wissen, ob ihr den Mut habt, euch der Wahrheit zu stellen."

„Welche Wahrheit?"

„Dass ihr genauso wenig frei seid wie wir. Ihr seid an diese Mauern gebunden, an eure Pflichten, genau wie wir an den Mond gebunden sind. Glaubt ihr wirklich, dass es einen Unterschied macht, ob man ein Werwolf ist oder eine Prinzessin? Am Ende sind wir alle nur Gefangene unserer eigenen Natur."

Seine Worte trafen mich tiefer, als ich zugeben wollte. Da war etwas Wahres daran, das konnte ich nicht leugnen. Mein Leben war nie wirklich mein eigenes gewesen. Die Entscheidungen, die ich traf, wurden immer von außen gelenkt – von den Erwartungen meines Vaters, der Last des Königreichs auf meinen Schultern.

Kael sah, wie sich mein Gesicht veränderte, und für einen kurzen Moment huschte etwas Weiches über seine Züge, fast so, als hätte er etwas verstanden, das wir beide in diesem Moment teilten.

„Ihr seid mutiger, als ihr denkt", sagte er leise. „Aber ihr werdet es bald herausfinden."

Bevor ich antworten konnte, hörte ich Schritte hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich Lyall, der mit ruhigen, festen Schritten auf uns zukam. Er trug das gleiche Lederwams wie am Vortag, und sein Gesicht war in einer neutralen Maske gefangen, doch seine Augen – goldene, warme Augen – schienen sofort zu registrieren, was hier vor sich ging.

„Kael", sagte er in einem ruhigen Ton, doch darin lag eine unausgesprochene Warnung. „Das ist nicht der richtige Ort für ein solches Gespräch."

Kael warf ihm einen trotzigen Blick zu, als wäre er kurz davor, etwas zu sagen, das den Streit zwischen ihnen entfachen würde. Doch dann ließ er seinen Blick noch einmal zu mir gleiten, und in seinen Augen sah ich etwas, das mich noch lange beschäftigen würde. Eine Mischung aus Neugier und... etwas Dunklerem.

„Wir sprechen uns wieder, Prinzessin", sagte er schließlich, bevor er sich abwandte und in den Schatten verschwand.

Ich stand da, mein Herz immer noch wild in meiner Brust schlagend, während Lyall schweigend neben mir verweilte. Er sah mir nicht direkt in die Augen, doch ich konnte seine Anspannung spüren. Schließlich brach er das Schweigen.

„Es tut mir leid, wenn mein Bruder euch Unbehagen bereitet hat. Er hat seine eigene Art, Dinge zu sehen."

„Nein", sagte ich schnell, obwohl mein Inneres noch immer zitterte. „Er hat nichts falsch gemacht."

Lyall musterte mich einen Moment lang, als wollte er mehr aus mir herauslesen, aber dann nickte er langsam. „Ihr seid anders, als ich erwartet hatte, Prinzessin Aylin."

Ich schmunzelte leicht, aber es war ein trauriges Lächeln. „Und was habt ihr erwartet?"

„Eine Prinzessin, die in ihrem goldenen Käfig bleibt", sagte er ruhig. „Aber ich sehe, dass auch ihr euren eigenen Weg sucht."

Die Worte hingen in der Luft, und ich wusste, dass er Recht hatte.

Mondfluch: Zwischen zwei HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt