Kapitel 1: lern zwischen den Zeilen zu lesen.

24 5 64
                                    

Die schrillen Glocken der alten Bücherei kündigen mein Erscheinen an.
Jedoch bin ich mir nicht so sicher, was genau sie ankündigen. Kommende Dummheit oder Naivität?
>>Hallo Viviane.<< Der alte Mann hinter der Theke lächelt mich freundlich und höflich an.
Ich erwidere das Lächeln mehr schlecht, als recht. Wie hieß er noch gleich? >>Hallo-<< Äh? >>Schönes Wetter nicht?<<
>>Es regnet seit fast vier Tagen.<< Entgegnet er trocken.
>>Naja.<< Ich streiche mir eine Strähne hinter das Ohr. >>Wasser ist gut für die Pflanzen, nicht?<<
>>Da hast du wohl recht.<< Sein Blick verschleiert sich.
Ich wende mich den nächsten Bücherregal zu.
>>Wie geht es Angelika?<< Fragt der Mann aus dem Nichts und taucht neben mir auf.
>>Besser als bei meinem letzten Besuch auf jeden Fall.<<
>>Das freut mich zu hören.<< Summend und zufrieden geht der alte Mann weiter und streicht mit den Fingern über die Buchrücken.

Ich ignoriere seine fröhliche Melodie und konzentriere mich auf die Buchrücken.

Meine Freundin Sofia hat bald Geburtstag und ich weiß, dass sie sich Bücher gewünscht hat.

Sie mag Romantik, Thriller verabscheut sie. Sie hat eigentlich vor allem Angst, was auch nur einbisschen gruselig sein könnte.

Ich tauche tiefer in den Laden ein und staune nicht schlecht, als ich die Abteilung Fantasy betrete.
Früher habe ich mir gerne Geschichten ausgeliehen.
Mittlerweile habe ich aber keine Zeit zum lesen mehr. Die Schule beansprucht zu viel Zeit. Dazu muss ich immer auf meine kleine Schwester aufpassen.

Zwischen all den bunten Taschenbüchern sticht mir ein großes, groteskes, altes Buch ins Auge.
Ich bücke mich und ziehe aus dem Regal.
Ehrfürchtig streiche ich über den Einband des Buches. >>Das muss ja uralt sein.<<
Eine dicke Staubschicht verdeckt die glitzernen Buchstaben auf dem Ledereinband.
Ich puste den lockeren Staub beiseite.

Your Own Chapter

>>Hast du etwas gefunden?<<
>>Ja.<< Ich erhebe mich und sehe nachdenklich hoch. >>Ja. Das hier.<<
Ich zeige dem Mann mein Buch.
Der alte Mann zieht die Augenbrauen hoch. >>Das stammt aber nicht von uns...<<
Nachdenklich begutachtet er das Buch.
>>Wo hast du das her?<<
>>Aus der Abteilung für Fantasy.<<
>>Weißt du was.<< Ein Lächeln breitet sich auf dem Gesicht des Mannes aus. >>Behalte es.<<
>>Ohne zu bezahlen?<<
>>Oh ja. Ich weiß, dass du nicht gerade viel Geld für Kleinigkeiten übrig hast. Viel Spaß, Vivi.<<
>>...Danke.<<

Ich verabschiede mich und mache mich auf den Weg nach Hause.

***

Wie werde ich Teil meiner eigenen Geschichte?
Blätter eine Seite weiter, um es zu erfahren. Doch sei gewarnt! Das Buch hat schon so manchen in den Wahnsinn getrieben...

Neugierig schlage ich die nächste Seite auf.

Kapitel 1: lern zwischen den Zeilen zu lesen.

Ich starre auf die Seite, dann blättere ich noch einmal um und starre erneut auf eine leere Seite.
Ich blättere immer schneller durch das Buch.
Leer.
Absolut leer.
Musste ich deswegen nichts bezahlen?

Verärgert schiebe ich das Buch weg und verlasse mein Zimmer.

>>Hallo Mama.<<
Begrüße ich meine Mutter Angelika in der Küche.
Sie sitzt auf einen der alten Holzstühle und trinkt Tee.
>>Schlimmes Wetter, nicht wahr?<< Fragt sie mich. >>Oh ja. Der Mann aus dem Bücherladen sah das genau so.<<
>>Du warst bei Henry?<<
Henry? So hieß er? >>Ja. Sofia hat bald Geburtstag.<<
>>Hast du wenigstens etwas gefunden?<<
Ich denke an das leere Buch und schüttel den Kopf.
>>Nein.<<
>>Schade. Naja.<< Sie schiebt den Stuhl knarrend zurück und steht auf. >>Ich möchte morgen mit dir und Lia sprechen. Ich habe einen Weg gefunden, dich einbisschen zu entlasten.<<
Sie stellt ihre Tasse auf die Küchenzeile und verlässt die Küche.
Ich folge ihrem Beispiel, brühe mir einen Tee und gehe zurück in mein Zimmer.

Das Buch liegt genauso nutzlos auf dem Tisch wie zuvor.
>>Du seltsames Ding.<<
Ich zieh es zu mir ran und sehe mir erneut die erste Seite des ersten Kapitels an.
>>Komisch.<<
Ist es vielleicht dazu gedacht, um selber hineinzuschreiben?
Seine eigene Geschichte zu verfassen?
Ich zücke einen Stift und setzte ihn vorsichtig auf dem alten Papier auf.

Wie beginnt man ein Kapitel, geschweige denn ein Buch?

Zögerlich schreibe ich hallo auf.

Unter meiner Schrift erscheint eine vergilbte, ältere Handschrift.

Hallo Vivi.

Ich unterdrücke einen Aufschrei und lasse den Stift klappernd fallen.

Hast du Angst?

Ich springe auf, mein Stuhl fällt scheppernd zu Boden.

Ich tu dir nicht weh.

Eine Hand schießt aus der Seite und umschließt mein eigenes Handgelenk.

Vertrau mir.

Panisch versuche ich mich zu befreien.

Sprich die Worte.

>>Lass mich los!<<

Die anderen.

Ich suche auf dem Schreibtisch nach etwas spitzen.

Lern zwischen den Zeilen zu lesen.

>>Lässt du mich dann los?<<

Ja.

>>Also gut. Lern zwischen den Zeilen zu lesen?<<

Die Hand nimmt eine menschliche Farbe an und wird immer größer.
Schreiend will ich mich los reißen.
Doch mittlerweile ist die Hand so groß, das Buch noch riesiger und ich...
Mein Magen sagt herab.
Und ich so klein.
Die Hand legt sich auf meinen Mund, unterdrückt einen panischen Schrei und zieht mich in die Seiten.

Just one more chapter: In jeder Geschichte steckt ein Fünkchen WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt