Über den belebten Straßen von Republic City zogen vereinzelt dunkle Wolken am Himmel entlang, als ob sie das Unheil, das sich in den kommenden Wochen anbahnen würde, bereits ankündigten. Es war ein später Nachmittag im Herbst, aber die Dunkelheit hatte sich schon früh über die Stadt gelegt. Die Sonne war hinter dichten Wolken verschwunden und ein kalter Oktoberwind pfiff durch die engen Straßen, wehte Staub und Blätter auf, während die Lichter der Laternen allmählich aufflackerten. Linai zog ihren dünnen Mantel enger um sich, während der Wind immer stärker wurde und sie spürte, wie eine Gänsehaut langsam ihren Rücken hinaufkroch.
Die junge Nichtbändigerin war auf dem Weg zu ihrer Spätschicht im Dampfdrachen, wo sie bereits seit zwei Jahren als Kellnerin arbeitete. Ihr Lohn reichte gerade so für die Miete und das Nötigste an Lebensmitteln, doch es blieb kaum etwas übrig, um sich kleine Freuden zu gönnen. Sie hatte sich ihr Leben in Republica ganz anders vorgestellt. Als sie herkam, hatte sie große Träume. Eine helle moderne Wohnung mit einem Blick über die Stadt, einen gut bezahlten Job, der es ihr ermöglichte, ab und zu auszugehen, neue Kleider zu kaufen, vielleicht sogar zu reisen. Aber all das blieb unerfüllt. Die Realität in Republica war härter, als sie erwartet hatte.
An einer belebten Kreuzung hielt Linai inne und hob den Kopf. Die Gebäude wirkten in der Dämmerung wie große stille Schatten. Sie spürte die Kälte in ihren Gliedern und die Schwere in ihrem Herzen, die heute noch intensiver war als sonst. Normalerweise half der zweite Kaffee des Tages die morgendliche Müdigkeit und die Antriebslosigkeit zu vertreiben, doch heute war es anders. Ein Gefühl der Erschöpfung hatte sich tief in ihr festgesetzt und egal wie viel sie sich auch bemühte, es schien nicht zu weichen. Ihr Atem bildete kleine Wolken in der kalten Luft, während sie mit schweren Schritten weiter über das Kopfsteinpflaster ging. Ihre Gedanken schweiften ab, weg von der Arbeit, weg von den Problemen. Sie fragte sich, ob sie an diesem Tag wirklich die Kraft aufbringen würde, sich durch die lange Schicht zu schleppen. Normalerweise konnte sie sich auf ihre innere Stärke verlassen, ihre Entschlossenheit, durchzuhalten, egal wie hart der Tag auch war. Doch heute schien selbst das zu versagen. Das leise Murmeln der vorbeigehenden Menschen und das Brummen der vorbeifahrenden Sato-Mobile bildeten eine Geräuschkulisse, die Linai kaum noch wahrnahm.
Je näher sie dem Restaurant kam, desto intensiver wurde das Gefühl, dass etwas in der Luft lag. Etwas, das sie nicht benennen konnte. Eine Spannung, die über der Stadt hing wie die dichten Wolken am Himmel. Vielleicht lag es an der Unruhe, die in Republic City in letzter Zeit immer spürbarer geworden war. Normalerweise war Republica eine pulsierende Metropole in der Bändiger und Nichtbändiger friedlich zusammenlebten – zumindest in der Theorie. In Wirklichkeit lag immer eine unsichtbare Spannung in der Luft. Die Bändiger hatten Privilegien von denen die meisten Nichtbändiger nur träumen konnten: mächtige Jobs, gesellschaftliches Ansehen und die Sicherheit, dass sie sich verteidigen konnten, wenn es darauf ankam. Linai fühlte diese Unzufriedenheit jeden Tag, wenn sie durch die Straßen ging. Sie war niemand – nur ein weiteres Gesicht in der Menge. Durch diese Unausgeglichenheit wuchs die Spannung zwischen den Parteien in den letzten Monaten, die viele Menschen, wie auch Linai, nachdenklich gemacht. Sie hatte sich nie großartig in Politik eingemischt oder gar dafür interessiert, doch in letzter Zeit hatte sie immer öfter das Gefühl, dass sie sich auf irgendeine Weise positionieren müsste.
Ein kalter Windstoß riss sie aus ihren Gedanken und sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie war bei ihrer Arbeit angekommen. Das Klirren des Porzellans und das gedämpfte Murmeln von Gesprächen empfingen sie, als sie durch die Eingangstür des Dampfdrache trat. Die warme Luft des Restaurants war ein willkommener Kontrast zum stürmischen Wetter draußen. „Du bist spät dran", rief ihr Meister Bao, der Besitzer vom Tresen aus zu, ohne von seiner Kasse aufzusehen. „Tut mir leid Meister Bao. Der Verkehr war schlimm", entschuldigte sie sich sofort und schlüpfte schnell in ihre Schürze. Die Wahrheit war, dass sie absichtlich langsamer gegangen war. Sie liebte ihre Arbeit, aber heute spürte sie eine bleierne Müdigkeit, die sie nicht abschütteln konnte.
Das Restaurant war brechend voll. Die Luft war schwer vom Duft von gebratenem Reis, süß-saurer Soße und der verbrauchten Luft der Gäste. Linai balancierte gekonnt Tabletts durch die engen Gänge und bediente Bändiger und Nichtbändiger gleichermaßen. Es war eine Routine, die sie liebte – zumindest an den meisten Tagen. Doch heute lastete das Gewicht ihrer Sorgen schwer auf ihr. „Hast du gehört?", fragte eine Frau an einem der hinteren Tische, als Linai deren leere Schalen abräumte. „Dieser Typ Amon von den Equalisten. Er hat wieder zugeschlagen. Sie sagen, dass er Leuten die Fähigkeit des Bändigens nehmen kann."
Linai erstarrte. „Das Bändigen nehmen?", fragte sie, obwohl sie es eigentlich hätte ignorieren sollen. Sie mischte sich ungern in Gespräche ihrer Gäste ein. Die Equalisten, eine aufstrebende Gruppe von Nichtbändigern, hatten in letzter Zeit immer mehr von sich Reden gemacht. Sie sind offenkundig gegen die Vorherrschaft der Bändiger vorgegangen. Die junge Frau hatte selbst nie daran gedacht sich ihnen anzuschließen, doch die Vorstellung, dass jemand die Kräfte der Bändiger entfernen könnte, war beängstigend und faszinierend zugleich. „Ja", fuhr die Frau fort und senkte ihre Stimme, sodass nur Linai und die Freunde der Frau sie verstehen konnten. „Sie sagen, dass er die Macht dazu hat. Er könnte Republica verändern. Stell dir das vor: Eine Welt, in der alle gleich sind. Keine Bändiger, die uns herumkommandieren." Die Worte der Frau klangen fast verheißungsvoll, aber sie jagten Linai nur eine Gänsehaut über den Rücken. Die Vorstellung, dass jemand das Bändigen auf solche Weise beenden könnte, war unglaublich. Sie hatte zu viele Bändiger in Aktion gesehen – das Feuer, das aus den Händen eines Feuerbändigers schoss oder die Eleganz eines Wasserbändigers, der das Element so leicht lenkte, als wäre es ein Tanz. Aber es war nicht nur Angst. Ein Teil von ihr konnte nicht leugnen, dass eine gewisse Ungerechtigkeit in der Welt lag. Nichtbändiger wie sie hatten es schwerer. Immer. Es war, als ob die Welt ihnen ständig sagte, dass sie weniger wert waren. Einige Bändiger zeigten dies offen, aber es gab auch Bändiger, die die Nichtbändiger genauso behandelten wie ihresgleichen.
Während die Nacht hereinbrach und die Gäste nach und nach das Restaurant verließen, hörte der Regen draußen auf. Linai blieb zurück, um die Tische abzuwischen und die Stühle auf die Tische zu stellen. Meister Bao nickte ihr zu als er ging. „Mach dir keine Sorgen wegen Amon und seinen Leuten", sagte er in einem Anflug von väterlicher Fürsorge, als er die Kasse schloss. „Die Bändiger haben schon immer die Oberhand gehabt, und das wird sich auch nicht ändern. Es ist viel wichtiger in Harmonie zusammenzuleben." „Ja, Meister Bao", antwortete Linai geistesabwesend, während sie mit dem Tuch über die Tische wischte. Als sie allein war, ließ sie das Tuch sinken und starrte aus dem Fenster. Die Lichter von Republica leuchteten wie Sterne spiegelten sich in den nassen Straßen, doch die Dunkelheit der Wolken am Himmel verschluckte den Rest des Horizonts. Die junge Frau fühlte sich gefangen zwischen zwei Welten – einer Welt, in der sie jeden Tag überlebte und einer, die vielleicht eine bessere Zukunft versprach. Was, wenn Amon wirklich Recht hatte? Was, wenn die Welt der Bändiger endlich zu Ende ging?
Ein tiefes Donnergrollen in der Ferne ließ sie zusammenzucken. Der Sturm war noch nicht vorbei. Eine zweite Welle an Gewitter zog auf. Tief holte sie Luft und schloss die Augen. „Ich bin niemand", flüsterte sie leise. Aber tief in ihrem Inneren regte sich etwas. Eine leise Stimme, die sie aufforderte, mehr zu sein. Noch wusste sie nicht, was der Sturm bringen würde, aber eines war sicher: Republica City würde sich bald für immer verändern.
Nach getaner Arbeit nahm Linai ihre Tasche, verließ die Räumlichkeiten des Restaurants und schloss ab. Auf ihrem Nachhauseweg war die Stille der Nach wie ein ständiger Begleiter. Die Straßen von Republica City waren menschenleer, doch das Prasseln des Regens auf den Pflastersteinen erfüllte die Luft mit einem beruhigenden Rhythmus. Sie zog die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und ließ den Regen auf sie herabfallen, als sie in Richtung ihres kleinen Apartments ging. Es war ein langer Tag gewesen und sie wollte nur noch unter die heiße Dusche, um dann todmüde ins Bett zu fallen.
Die Worte der Frau über Amon und die Equalisten hallten immer noch in ihrem Kopf wider. Sie hatte sich nie wirklich für Politik interessiert. Für sie ging es immer nur ums Überleben, darum von einem Tag zum nächsten zu kommen, genug Geld zu verdienen, um die Miete zu zahlen und sich über Wasser zu halten. Doch etwas an der Vorstellung, die Ungerechtigkeiten der Welt zu bekämpfen, war noch doch eine kleine Versuchung für sie. Was, wenn die Welt wirklich anders sein könnte? Eine Welt, in der Menschen wie sie nicht ständig im Schatten der Bändiger leben mussten und gerecht behandelt werden würden?
Als sie die schmalen Gassen entlanglief, die zu ihrem Wohnblock führten, hörte sie plötzlich Schritte hinter sich. Sie drehte sich hastig um, ihre Hand instinktiv an der Tasche. Doch die Gasse war leer, bis auf den schwachen Schein einer Laterne, die durch den Nebel des Regens flackerte."Linai, du wirst paranoid", murmelte sie leise zu sich selbst und beschleunigte ihre Schritte. Doch das Gefühl des Unbehagens ließ sie nicht los. Ihr Herz pochte schneller, als sie die letzten Meter zu ihrem Wohnblock lief. Sie schloss die Tür ihres Apartments hinter sich und lehnte sich für einen Moment erschöpft gegen das Holz. Die leeren Wände um sie herum wirkten plötzlich bedrückender als sonst. Erschöpft ging sie zum Fenster und starrte hinaus. Republica war wunderschön bei Nacht mit ihren leuchtenden Straßenlaternen und den Hochhäusern, die in den Himmel ragten. Wenn man die Stad so betrachtete, würde man nicht auf die Idee kommen, dass eine große Unzufriedenheit unter ihrer Oberfläche brodeln würde.
Plötzlich klopfte es an ihrer Tür. Ihr Herz setzte einen Moment aus. Wer konnte das um diese Zeit sein? Sie erwartete niemanden heute mehr. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt weit und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, der triefend nass im Flur stand. Sein dunkles Haar klebte ihm an der Stirn und seine Augen glitzerten im Schein des Flurlichts.
Linai erkannte ihn sofort. Es war Toshi. Ein Freund aus dem Café, wo sie ihren zweiten Job hatte. Sie waren ganz gut befreundet und unternahmen in ihrer Freizeit ab und zu etwas, aber mehr als eine platonische Freundschaft war nie zwischen ihnen gelaufen. „Toshi? Was machst du hier?", fragte sie. Sie konnte sich nicht erklären, warum er um diese Uhrzeit unangekündigt bei ihr auftauchte.
„Du musst sofort mitkommen", sagte er. Seine Stimme klang gepresst und erst jetzt stellte die junge Nichtbändigerin fest, dass er völlig außer Atem war. „Es ist wichtig." Linai war verwirrt. „Was? Was redest du da? Es ist mitten in der Nacht, ich..." „Es geht um Amon", unterbrach er sie hektisch. „Er und seine Leute sie sind in der Stadt. Sie laden Nichtbändiger ein, um an ihren Versammlungen teilzunehmen. Ich... Ich habe mit einem von ihnen gesprochen. Sie suchen nach Leuten wie uns, Nichtbändiger. Sie glauben, dass wir die Stadt verändern können."
Linai war sprachlos. Die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten herum und plötzlich fühlte es sich an, als würde der Boden unter ihren Füßen schwanken. Amon, hier in Republica City? Und er suchte nach Leuten wie ihr? Sie schluckte hart und spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Es war eine Sache, über die Equalisten zu sprechen – eine ganz andere direkt in ihre Welt hineingezogen zu werden. „Warum kommst du damit ausgerechnet zu mir?", fragte sie scharf, ihre Augen zu Schlitzen verzogen. „Linai, hör mir zu!", flehte Toshi mit großen Augen. „Du hast keine Ahnung, was da draußen vor sich geht. Die Bändiger – sie haben uns unser ganzes Leben lang unterdrückt. Amon ist die einzige Chance, die wir haben, uns zu befreien. Das ist größer als du oder ich. Wir könnten eine Revolution anführen!"
Revolution. Das Wort traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Linai wich erschrocken einen Schritt zurück. „Wie meinst du das eine Revolution anführen? Ich bin keine Anführerin", flüsterte sie kaum hörbar. „Ich bin doch ein niemand und habe keine besonderen Eigenschaften." Toshi starrte sie an als hätte sie etwas völlig Absurdes gesagt. „Niemand? Das ist doch genau das, was sie wollen Linai! Genau das wollen sie uns glauben machen. Dass wir nur kleine Leute sind, die keine Rolle spielen. Aber was, wenn wir es doch tun? Was, wenn du mehr bist, als du denkst? Du bist mehr als du denkst!"
Seine Worte setzten sich langsam in ihren kreisenden Gedanken an und hinterließen ihre Spuren. Linai wollte ihm nicht glauben. Sie wollte nicht in diese Welt hineingezogen werden. Aber tief in ihrem Inneren spürte sie einen wachsenden Drang doch dazuzugehören und etwas zu verändern. „Ich...", begann sie, doch ihre Worte verblassten, als ein lauter Knall die Nacht zerriss. Beide zuckten zusammen, als sie hörten, wie Glas in der Nähe zersplitterte und die Sirenen der Polizei heulten.
Toshi sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Es hat begonnen", sagte er leise, fast ehrfürchtig. „Die Revolution." Linai schaute ihn an und zum ersten Mal an diesem Abend spürte sie die Kälte der Realität wie einen Schlag in ihre Brust. Die Welt veränderte sich – und sie musste eine Entscheidung treffen. „Was immer du tust, Linai", sagte Toshi, „mach es schnell." Die Zukunft von Republica hing an einem seidenen Faden und Linai stand nun mitten in diesem Netz.
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Linai - Liebesgrüße aus Republica
RomanceDie jung Nichtbändigerin Linai lebt in Republica, einer Stadt, die von den Spannungen zwischen Bändigern und Nichtbändigern zerrissen wird. Als sie sich den Equalisten anschließt, glaubt sie fest daran für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu käm...