Kapitel 5

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Mal ehrlich, habt ihr schon mal jemanden tanzen sehen, der es richtig draufhat? Einen Profi? Das ist wie ein Magnet für die Augen. Reine Befriedigung für die Sinne. Diese Leute bewegen sich mit einer Selbstverständlichkeit und Eleganz, die vollkommen mühelos wirkt. Scham? Fehlanzeige. Und warum auch? Sie haben keinen Grund dafür. 

Auf dieser Party scheinen etwa neunzig Prozent der Gäste Artisten zu sein. Ich stehe mit meinem Bier in der Hand in der Ecke und weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll, während sie zu Dance with Somebody die Tanzfläche erobern.

Die fühlen echt die Musik. Sie verkörpern sie. Jede Bewegung strahlt Freiheit und Selbstbewusstsein aus, so viel, dass es schwer ist, nicht mitgerissen zu werden. Es ist elektrisierend, ihnen zuzusehen.

Natürlich – natürlich – rede ich vor allem von Nikita. Und nein, ich starre nicht. Ich gebe mir Mühe, hin und wieder auch woanders hinzusehen. Aber es ist schwer, wenn jemand so tanzt, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.

Durch einen Lautsprecher läuft Musik, die mir durch die Knochen geht und in mir das Bedürfnis weckt, mitzutanzen. Ich trete an die Theke, nutze den Moment, das Treiben um mich herum verblasst, und plötzlich gibt es nur noch ihn. Sein Blick trifft mich, und ich spüre, wie sich alles in mir verlangsamt, als würde die Zeit stillstehen. Ich hatte mir so oft ausgemalt, was ich sagen würde, doch jetzt, in diesem Moment, fallen mir keine Worte ein.

Er steht da, Haare kleben leicht verschwitzt an seiner Stirn, und wirft mir dieses unwiderstehliche, süße Lächeln zu. Die Worte rutschen einfach aus mir heraus, fast, als hätte er mich hypnotisiert: „Deine neue Nummer ist echt der Hammer." Sofort spanne ich mich an und hinterfrage jedes Wort, das ich gesagt habe.

Ich habe seine neue Nummer heute Morgen in der ersten Show gesehen. Sie hat mich reingezogen wie ein Sog in eine andere Welt. Wie ein längst vergessenes Gefühl, das plötzlich wieder aufflammt. Ein russisches Lied hatte ihn begleitet, ein Stück, das ich aus meiner Kindheit kenne und damals schon geliebt habe. Ich konnte es kaum fassen, als ich die ersten Töne gehört und realisiert habe, welches Lied es war. Es brennt mir förmlich auf der Zunge, ihm zu erzählen, wie viel mir dieses Lied bedeutet.

Das inspirierende Musikvideo habe ich in meiner Kindheit abgöttisch geliebt. Es ist, als wäre das Musikvideo ein Science-Fiction-Film gewesen. Einmal habe ich sogar das erste Kapitel geschrieben. Es war so dramatisch und mysteriös.

Die Show von Nikita hat alles übertroffen, was ich mir jemals hätte ausmalen können. Niemals hätte ich in Worte fassen können, was er geschafft hat, mit seinem eigenen Körper auszudrücken.

Mein Herz schlägt schneller, als Nikita sich mit seinem Glas dunkler Flüssigkeit ganz zu mir zuwendet. „Danke," sagt er, fast beiläufig, seine Stimme tief und ruhig, als hätte er diese Worte schon tausendmal gesagt.

Jetzt bloß nicht aufhören zu reden. „Ehrlich, du könntest Schauspieler sein," platzt es aus mir heraus und ich möchte am liebsten im Boden versinken. Kann man sich selbst fremdschämen? „Ähm... Wahrscheinlich hat man dir das schon hundert Mal gesagt, oder? Ich klinge wie ein Hardcore-Fan, aber... ja." 

Er schaut mich mit schiefgelegtem Kopf an. Das ist das erste Mal, dass ich Zeit habe, ihn von so nah zu mustern, ohne aufzufallen. Er hat leichte Augenringe und Sommersprossen, die sich um seine Nase verteilen. Und er ist nur ein kleines Stück kleiner als ich. „Schauspieler ist neu", sagt er mit einer Stimme, die nachdenklich und irgendwie herausfordernd klingt. „Was denkst du, wer ich auf der Bühne bin?"

Die Frage erwischt mich völlig unvorbereitet. Ich wünschte, ich wäre der Typ, dem spontan kreative Antworten einfallen. Leider kommen mir solche Ideen immer erst hinterher. „Na ja... irgendwie sah es so aus, als würdest du... als würdest du in eine fremde Welt eintauchen, und der Reifen... der zieht dich einfach mit." Ich stoppe, merke, dass ich viel zu viel rede.

 Er sieht mich an, fast als würde er mich durchschauen, und es kribbelt unter meiner Haut. „Ähm... Alle feiern die Nummer. Ich –" glaube das ist das erste Mal, dass die Leute im Vorzelt Gutes über dich reden. Besser nicht. „Ich wollte dich fragen, wie das Lied heißt." Toll. Jetzt wird er niemals erfahren, dass ich das Lied kenne und wie viel es mir bedeutet. Gut gemacht, Josh.

„Odinochestvo", sagt er knapp, und die Art, wie er das Wort ausspricht, lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Seine Stimme klingt anders auf Russisch, irgendwie weicher, flüssiger, und nur ein einziges Wort geht mir bis in die Knochen. Es klingt fast wie Gold, das aus seinem Mund fließt. „Das Lied passt perfekt. Als wäre es extra für die Nummer gemacht. Als ich es zum ersten Mal gehört hab, hab ich die Nummer wie Bilder vor mir gesehen." 

Oh mein Gott. Er ist mein Soulmate. 

Bevor ich es mir recht überlege, frage ich: „Bist du Russe?" Na ja, wenn das nicht offensichtlich ist, dann bin ich wohl wirklich ziemlich blöd.

Er schmunzelt, und in seinen Augen blitzt etwas Schelmisches auf. „Ja?"

„Echt?" Ich wechsle ins Russische. „Das wusste ich nicht."

„Darüber reden die Leute nicht, was?" fragt er ebenfalls auf Russisch, seine Augen mustern mich aufmerksam. Es ist fast so, als wüsste er genau, dass ich seine Welt durch das Flüstern und die Geschichten anderer kenne – und doch keine Ahnung habe, wer er wirklich ist. „Lass mich dir das Lied schicken. Sonst hast du's morgen vergessen."

„Oh, nicht so, als könnte ich dich nochmal fragen."

„Nein, deshalb brauchst du dringend meine Nummer." Ich spüre, wie meine Wangen warm werden, während ich mein Handy zücke und er mir den Link zu Odinochestvo schickt.

Ich starre auf die Nachricht und dann zu ihm. Jetzt schon bin ich gespannt darauf, mir später in Ruhe sein Profil anzuschauen. „Danke."

„Und wie heißt du?"

„Josh," sage ich. „Die meisten nennen mich Farrell. Ist mein Nachname."

„Josh." Der weiche Klang meines Namens aus seinem Mund trifft mich wie ein Stromschlag. Er tippt weiter auf seinem Handy und nickt. Er zieht nicht einmal in Erwägung, sich selbst vorzustellen. „Kein russischer Name."

Ich öffne meinen Mund, um etwas zu sagen, fange aber gleich wieder an zu stottern. „Also, meine Mom hat einen Deutschen geheiratet, und sie finden englische Namen halt einfach ... besser."

Sein Lächeln ist noch süßer, wenn er dir dabei in die Augen sieht und du weißt, dass für diesen kurzen Moment dieses Lächeln nur dir gehört. „Mir gefällt der Name auch."

Nikita (Deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt