«2» reality check // part II

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Song: True Blue - boygenius

"Das ist ja Niemandsland."
Mein Kommentar hat keinen Adressaten. Vielleicht das Universum, dem ich mitteilen möchte, dass die Wendungen in meinem Leben langsam nicht mehr lustig sind und meinen Charakter nicht besser, sondern schlechter machen.

Bis vor ein paar Minuten waren wir links und rechts von Bäumen umgeben.
Jetzt passieren wir einen Flachbau nach dem anderen. Die Seitenstraßen, die von der offensichtlichen Hauptverkehrsader abgehen, sehen nicht sonderlich belebt aus.
Es scheint, als ob sie direkt in den Wald führen, durch den wir gerade gekommen sind.

Ich erkenne ein Café, ebenfalls ein Bungalow, einen kleinen Laden mit Vorbau, auf dessen Bürgersteig Kleiderstangen mit der Mode von letztem Sommer stehen.
An der Außenfassade des wahrscheinlich einzigen Supermarktes wehen gleich vier amerikanische Flaggen.

Ich reiße die Musik aus meinen Ohren und rutsche so weit an die Kante des Ledersitzes vor, wie es der Sicherheitsgurt erlaubt.
Anders als der Durchschnitt habe ich den Ort natürlich nicht gegoogelt, an den ich abgeschoben werde.
Ich wollte diesen Teil der Realität so lange verdrängen, bis er mir ins Gesicht schlägt.

Im Moment weiß ich allerdings nicht, ob ich diese Idee immer noch so gut finde. Andererseits hätte es mir in den letzten Wochen nichts gebracht, mit Magenschmerzen im Bett zu liegen, sobald ich an diesen schmalen Landstrich gedacht hätte.
Denn so gut mein Hundeblick bei Dad auch ziehen mag, aus dieser Nummer wäre ich so oder so nicht rausgekommen.

Ich schließe die App, die bis eben als meine emotionale Stütze fungiert hat, um mir auf einer Landkarte anzusehen, wo genau ich mich gerade befinde.
Ich wusste, dass ich in den Norden des Bundesstaates komme, aber als ich auf das kleine Fleckchen Land zwischen dem gigantischen Lake Michigan und dem Glen Lake starre, wird mir klar, dass es von hier nicht mal hundert Meilen bis zur kanadischen Grenze sein müssen.

Niemandsland.
Mit diesem Gedanken im Kopf blicke ich wieder auf. Im richtigen Moment, denn gerade tauchen hohe Mauern am Ende der schmalen Straße auf.
Bei ihrem unheimlichen Anblick schlägt mir die Realität mit aller Wucht ins Gesicht.

Kein Joe, keine Cindy, keine Allisa, kein Tennis, kein nächtliches Joggen, keine Auszeit auf der dunklen Treppe im hinteren Teil des Hauses, kein Streit mit Dad und kein Shoppen mit Mom.
Kein normaler Uni-Alltag mit Allisa. Keine Kaffee-Dates und Wochenenden am See.
Meine Finger krampfen sich um die kühle Hülle meines Handys. Mein letztes Stück der Normalität, ein Portal in die Welt, in der ich mich nicht frei bewegen kann, und von dem ich gleich auch noch getrennt werde.

In diesem Moment wird mir klar, dass ich eine Entscheidung treffen muss.
Gebe ich der drohenden Panik nach, kralle mich in die Lehne des Beifahrersitzes und flehe Jason an, mich wieder mitzunehmen oder zeige ich diesen Möchtegernpädagogen die Stirn und beweise Stärke?

Ich muss nicht zweimal überlegen und schlucke die Tränen runter, drücke mein Kreuz durch und konzentriere mich auf die Landschaft vor dem Fenster.
Die Wege neben der Fahrbahn sind naturbelassen. Hohes Gras, keine direkten Nachbarn grenzen an das Grundstück des Internats an. Und links von der Straße Wasser, nichts als Wasser.

Eigentlich ein schöner Anblick, aber ich kann ihn nicht wertschätzen.
Vielleicht werde ich nie wieder auf einen See hinausblicken können, ohne daran erinnert zu werden, wie mich meine Eltern von dem Mann getrennt haben, den ich liebe, nur weil es nicht zum Wahlprogramm meines Vaters passte.

Ich weiß, das ist nur die Spitze des Eisbergs, aber ich bin unglaublich wütend und will gemein sein.
Ich will meine Eltern verletzen und ihnen Unrecht tun, auch wenn es nur in meinem Kopf ist.
Die Steinmauer kommt näher. In sie eingelassen ein schweres Metalltor, bestimmt fünf Meter hoch; vom Grad der imposanten Wirkung fast filmreif.
Dunkle Ranken, die Weinreben imitieren, schließen dieses Meisterwerk der Sicherheitsausstattung ab. Mir entgeht nicht, dass die feinen Ranken und Blattspitzen an Stacheldraht erinnern.

Safeguarded [a spicy Romance🔥]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt