9. Kapitel

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Als Silberkralle sich auf den Rückweg ins Lager machte, konnte sie es zuerst gar nicht glauben. Sie hatte ihrer Tochter die Wahrheit erzählt – und sie glaubte ihr nicht. Was werden wohl die anderen sagen, wenn sie erfahren, dass ich mit SonnenClan-Katzen geredet habe! Aber um genau zu sein ist Mondkralle ja gar keine von ihnen. Sie erreichte das Lager. Doch als sie eintrat herrschte alles andere als das gewöhnliche Treiben. Keiner ihrer Clan-Gefährten sagte ein Wort. Sie wollte gerade Wurzelkralle fragen, was denn los sei, als sie mitten auf der Lichtung einen grau-weiß gesprenkelten Pelz erblickte. Nein! Sie rannte los und drängelte sich an den Katzen vorbei. Schließlich erreichte sie ihren Anführer. Kräuterschweif hatte den Blick starr zu Boden gerichtet. „Ich kann seine Wunden nicht heilen. Sie sind zu tief. Noch atmet er, aber er wird nicht mehr lange durchhalten." Die Heilerin sah Silberkralle an. Langsam beugte sich die Zweite Anführerin hinab und berührte mit der Schnauze sein Fell. „Du warst... eine wundervolle Stellvertreterin...", flüsterte Flockenstern. „Ich bin mir sicher, du wirst den Clan gut führen." Sie konnte es begreifen. „Ich will ihn nicht führen. Nicht, wenn du dafür sterben musst." Flockenstern sah sie noch einen kurzen Moment an. „Du wirst eine wunderbare Anführerin. Ich habe dein ganzes Leben miterlebt. Ich habe deine Geburt mitbekommen, deine Schülerzeremonie... und unsere gemeinsamen Trainingsstunden werde ich niemals vergessen..." Er sah sie an. Glück und Stolz über seine ehemalige Schülerin schimmerten in seinen Augen. Er murmelte: „Ich trete nun meine Reise zum SternenClan an. Lebe wohl..." Dann schloss er die Augen. Und er krampfte nicht zusammen, zuckte nicht, gab keinen Ton mehr von sich. Seine Flanke bewegte sich nicht mehr. Silberkralle stieß einen lauten Klageschrei aus. Er konnte nicht tot sein. Er durfte einfach nicht tot sein! Doch Silberkralle wusste, dass sie nichts daran ändern konnte. Um sie herum stimmte der Clan in ihr Heulen ein.


Silberkralle wartete vor dem Heilerbau auf Kräuterschweif. Endlich trat die Kätzin hinaus und sie überquerten die Lichtung. Gemeinsam schlüpften sie in die finstere Höhle, bis sie um die Ecke bogen. Ein leuchtender Stein füllte fast die gesamte Höhle aus – der Mondkristall. „Leg dich hier hin und berühre den Kristall mit deiner Nase", flüsterte Kräuterschweif und deutete auf eine Stelle direkt neben sich. Silberkralle gehorchte. Sobald sie den kalten Mondkristall berührte, überwältigte sie der Schlaf. Es herrschte absolute Finsternis. Silberkralle wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Sie stand einfach nur da und lauschte. „Es ist alles gut", miaute eine sanfte Stimme. Langsam blinzelte Silberkralle. Sie stand auf dem Gipfel eines Berges. Der Wind presste ihr das Fall an den Körper und sie hakte sich mit den Krallen am Boden fest, aus Angst, sie könnte hinunterfallen. Vor ihr standen – nein, schwebten mindestens ein Dutzend SternenClan-Krieger. Ehrfürchtig senkte Silberkralle den Kopf. „Schon gut." Sie blickte auf. Vor ihr sah sie Flockenstern. „Wieso...", begann sie, doch der ehemalige Anführer legte ihr den Schwanz auf das Maul. „Du bist bereit", miaute er und drehte sich um. Eine andere Katze nahm seinen Platz ein. „Tupfenfell!" Sie war eine schöne cremefarben getupfte Kätzin. Silberkralle hatte ihren Tod selbst mitbekommen, in einer Schlacht gegen Wölfe, die sich auf ihrem Territorium ein Lager gebaut hatten. „Es tut mir so leid!" „Schon gut. Du konntest nichts dafür." Tupfenschweif trat nah an sie heran und legte ihre Nase auf Silberkralles. Es kostete sie alle Kraft, sich nicht loszureißen. So einen heftigen Schmerz hatte sie nicht erwartet. „Mit diesem Leben gebe ich dir Mitgefühl. Nutze es gut für alle, die schwächer sind, als du." Endlich war es vorbei. Doch die Freude hielt nicht lange an. Eine Katze, die aussah wie ein Gepard, trat an sie heran. Kein Wunder, dass diese Kätzin Gepardenfell hieß. „Mit diesem Leben gebe ich dir Mut. Verwende ihn, um deinen gesamten Clan zu beschützen." Erneut durchfuhr der Schmerz Silberkralles Körper. Wie soll ich das nur durchstehen? Und warum spüre ich überhaupt diesen schmerz? Gepardenfell verschwand in den Reihen der SternenClan-Krieger. Als eine neue Katze vortrat stockte Silberkralle fast der Atem. Sie wusste nicht, ob sie verängstigt, traurig oder überglücklich sein sollte. Wahrscheinlich eine Mischung daraus. „Finkenherz!" Ihre Stimme zitterte, als sie ihren Gefährten begrüßte. „Es freut mich so, dich zu sehen!" Alle Regeln und Bräuche missachtend stürmte er vorwärts und schmiegte sich an Silberkralle. Sein Pelz war kalt, trotzdem durchfuhr strahlende Wärme Silberkralles Herz. „Warum musste es passieren!" Finkenherz fuhr mit seiner Zunge über ihr Ohr. „Ich bin nie wirklich weg", flüsterte er. „Ich werde immer ein Teil von dir sein." Er beugte sich vor. „Mit diesem Leben gebe ich dir Ausdauer. Benutze sie, um deine Pflichten zu erfüllen." Obwohl der Schmerz noch schlimmer war, als zuvor, presste sie ihre Nase so fest wie sie nur konnte an seine. Als er sich zurückzog rief sie. „Nein! Bleib bei mir!" Doch ihr Gefährte ging weiter. Er drehte sich noch einmal um und rief: „Ich bin immer bei dir!" Dann verschwand er zwischen den Reihen der Katzen. Silberkralle wollte ihm hinterherrennen, doch die nächste Katze kam bereits auf sie zu. Silberkralle kannte dieses Gesicht nur zu gut, dass sie so frech anlächelte. Ihr Bruder Wellenschweif stellte sich direkt vor sie. „Na? Ich hoffe doch, du hast mich vermisst!" Spöttisch glitzerten seine Augen. „Wie könnte ich nicht?" Freudig sah Silberkralle ihn an. „Mit diesem Leben gebe ich dir Treue. Benutze sie, um dienen Clan in noch so schwierigen Zeiten zu schützen." Er sah sie noch einen Moment mit schief gelegtem Kopf an, dann trat er beiseite und eine andere Katze trat heran – ein großer orangener Kater namens Sonnenschweif. Er gab ihr ein Leben für Gerechtigkeit, um andere Katzen und ihre Taten einzuschätzen. Die nächste Katze hieß Löwenkralle und war ein dunkelbrauner Kater mit buschigem Fell. Von ihm erhielt sie Schutz um ihren Clan stets zu versorgen. Sie blickte auf. Überrascht sah sie ein Junges auf sich zutrotten. Es war Streifenjunges, das einzige Junge ihrer Freundin Nachtschweif. Die kleine Kätzin war an Grünem Husten gestorben. „Mit diesem Leben gebe ich dir – was war das nochmal – Ach ja! Mit diesem Leben gebe ich dir die Kraft zu lehren." Silberkralle schnurrte belustigt und beugte sich zu dem Jungen hinab, um ihr Leben in Empfang zu nehmen. Erneut durchfuhr sie ein stechender Schmerz, obwohl er dieses Mal nicht so stark war. Streifenjunges hüpfte fröhlich davon. Eine schildpattfarbene Kätzin kam herbeigetrottet. Silberkralle erkannte Bernsteinherz. Traurig erinnerte sie sich an die Nacht, in der die Dächse ihr Lager eingenommen hatten. Flockenstern bestand darauf, ganze zwei Nächte lang die Totenwache für seine Gefährtin und seine nicht geborenen Junge zu halten. „Mit diesem Leben verleihe ich dir Liebe. Verwende sie für alles, was dir am Herzen liegt." Silberkralle wappnete sich für den nächsten Schmerz, doch dieses Mal blieb er aus. Alles was sie spürte, war eine wohltuende Wärme. Sie war fast enttäuscht, als Bernsteinherz von ihr abließ und davon ging. Silberkralle überlegte kurz. Wie viele Leben hatte sie bereits erhalten? Sie kam zu dem Schluss, bereits acht Leben in sich zu tragen. Moment! Das bedeutete... „Ich bin stolz auf dich", murmelte eine Stimme vor ihr. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie Flockenstern näher gekommen war. „Ich hätte bei dir seien sollen!", rief Silberkralle voller Trauer. „Du warst doch bei mir.", antwortete Flockenstern ruhig und berührte ihre Nase mit seiner. „Mit diesem Leben gebe ich dir Sicherheit und den Glauben, den du benötigst, um deinen Clan nach dem Gesetz der Krieger zu leiten." Ein letzter Schmerz durchfuhr Silberkralle, dann hatte sie es endlich überstanden. „Nun verleihe ich dir deinen neuen Namen, Silberstern", miaute er. „Benutze all deine Leben, um deinen gesamten Clan zu beschützen und zu leiten uns lebe jedes einzelne Leben voller Stolz und Würde." Die anderen SternenClan-Katzen erhoben ihre Stimmen: „Silberstern! Silberstern!" Ein letztes Mal betrachtete Silberstern die Katzen, die ihr so sehr am Herzen lagen, dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie erwachte in der Mondkristallhöhle.


Die Abenteuer des EisClans: Ruf der BergeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt