Der Besuch

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Mit klopfendem Herzen und weichen Knien lief ich die Treppe zum Esszimmer herunter. Mein Arm brannte noch immer, doch vor der angelehnten Tür zwang ich mich zu einer fröhlichen Miene und rang mir ein Lächeln ab.

"Guten Morgen, Sky! Du hast aber lange geschlafen", Mum lachte, winkte mich heran und schubste mir gleich einen Toast auf meinen Teller.

"Mhm", murmelte ich und griff nach der Marmelade.

Unauffällig zog ich meine Jacke weiter über die Schulter und konzentrierte mich auf das Frühstück. Meine Verletzung schien wirklich niemand zu bemerken. Mum machte eifrig Vorschläge was wir heute unternehmen könnten, Wil schaufelte ohne mich auch nur einmal anzusehen Cornflakes in sich rein und Jona,... sie starrte mich von der Seite her besorgt an. Fragend und ein wenig verunsichert zog ich die Augenbrauen hoch, doch sie wandte sich schnell ab und schlürfte ihr Müsli.
Sie konnte doch nichts gemerkt haben, oder?

"Ich bin satt", ich schob meinen Teller von mir, obwohl ich nur an einer Ecke des Toastes herumgenagt hatte.

"Du hast ja fast nichts gegessen", meinte Mum besorgt, "Ist dir nicht gut?"

"Ja", Jona fasste mir vorsichtig auf meine Schulter und das Brennen lies mich zusammenzucken, "was ist mit deinem Arm?"

Ich fasste mich wieder und versuchte so unbeschwert wie möglich zu klingen: "Was soll mit meinem Arm sein? Ich habe nur ein wenig Kopfschmerzen und brauche glaube ich etwas frische Luft."

Ohne weitere Entgegnungen abzuwarten, sprang ich auf und rannte aus dem Zimmer. Jona hatte es gesehen, da war ich mir sicher und sie wusste auch, dass ich gelogen hatte. Ich musste unbedingt mit Nana sprechen. Hatte sie nicht gesagt, keiner würde es bemerken?

Ich war im Flur zu ihrem Arbeitszimmer angelangt und natürlich flanierte Ferdinand wieder wie ein Wachhund vor der Tür hin und her. Doch dieses Mal schien er mich schon erwartet zu haben, denn er hielt mir die Tür auf ohne irgendeine Bemerkung zu machen. Ich trat etwas irritiert ein und meine Verwirrung wurde nicht weniger als ich zwei Fremde, die Nana gegenüber am Schreibtisch saßen, erblickte.

"Sky," Nana lächelte und wandte sich zu dem älteren Mann, der, wie ich vermutete, der Großvater des anderen war, " ja, mein lieber Ludwig, das ist meine Enkelin Skyla. Sie hat es heute Nacht erfahren. Sky", sie wandte sich wieder an mich, "das sind mein guter Freund und Groß- großcousin Ludwig Charles Fyth und sein Enkel Lucas. Er ist 16, also nur ein Jahr älter als du."

Der ältere Herr hatte ganz weißes Haar, das etwas lockig und zerzaust von seinem Kopf abstand und einen sehr dicken Bauch. Aber seine leuchtend blauen Augen strahlten wie die eines Kindes und waren von Lachfältchen umgeben. Er war mir auf Anhieb sympathisch. Sein Enkel Lucas hatte vom Gesicht her erstaunlich viel Ähnlichkeit mit ihm. Auch seine Augen glitzerten voll Schalk, doch er schien recht durchtrainiert zu sein und seine Haare waren dunkelblond und lockig. Jetzt grinste er mich breit an und meinte: "Hi, ich bin auch die zehnte Generation, aber eigentlich nur 'n Nebenelement. Ich weiß das alles auch noch nicht so lange. Ganz schön krass, ne?"

Bevor ich auf seine Frage reagieren konnte, stand Mr Fyth von seinem Stuhl auf und schüttelte mir mit breitem Lachen kräftig die Hand: "Skyla, es freut mich sehr dich kennenzulernen! Holly hat ja so viel von dir erzählt. Du brauchst nicht schüchtern sein, mit der Zeit gewöhnst du dich an all den Trubel. Lucas ist schon auf dem besten Weg. Er weiß über seine Kräfte seit, ja, seit wann denn...?"

Lucas half ihm: "Seit 'nem Monat, oder so, Grandpa."

Mr Fyth nickte. "Ja, stimmt, so ist es. Ihr werdet heute Nacht zusammen zum Schloss gebracht."

Jetzt ging es mir doch etwas zu schnell.
"Was für ein Schloß?", fragte ich verwirrt.

"Oh Liebes, ich vergesse immer, wie wenig ich dir bis jetzt erzählen konnte", Nana deutete auf ein Bild hinter sich. Es zeigte eine baufällige Ruine, "das ist das Schloß, also so sieht es zumindest von außen aus. Hinter seinen Toren erstreckt sich ein eigener Wald; das Grundstück ist viele Hektar groß. Auf dieser Fläche sind Trainingsplätze, Wohnhäuser, eine Schule und noch vieles weiter untergebracht. Dort leben die Elementskrieger und werden für den Kampf ausgebildet."

"Und da soll ich hin?!", fragte ich fassungslos, "Und was passiert, wenn ich gar nicht kämpfen lernen will?"

"Dann gehst du wohl oder übel in der Schlacht drauf", meinte Lucas achselzuckend.

Ich sah ihn irritiert von der Seite an.
"Was ich eigentlich damit sagen wollte, ist, dass ich da nicht hin will! Ich möchte hier bei meiner Familie bleiben!"

"Das geht nicht, Liebes, so sehr ich mir das auch für dich wünsche, aber es ist sehr gefährlich für ein Element, und vor allem für dich, ungeschützt zu sein. Denke an heute morgen."

Dagegen konnte ich nichts sagen. Ich fühlte nur wie mir Tränen in den Augen brannten und der Kloß in meinem Hals sich schmerzhaft zusammenzog bei dem Gedanken meine Familie zu verlassen. Aber ich riss mich zusammen, weil ich vor den anderen, vor allem vor Lucas, nicht weinen wollte wie ein Baby.

Das schien Nana zu bemerken, denn sie legte mir die Hand auf die gesunde Schulter und meinte: " Sky, du könntest Lucas doch mal den Garten zeigen? Und dich ein bisschen ablenken, während Ludwig und ich noch einige andere Dinge zu besprechen haben." Sie lächelte.

Ich wollte nicht mit Lucas sprechen. Am liebsten läge ich in diesem Moment in den Armen meiner Mutter und sie würde mir versichern, dass alles gut werde.

Doch Lucas war schon aufgesprungen und grinste: "Na dann mal los."

Wortlos gingen wir nebeneinander her bis wir im schönen Innenhof des Hauses angekommen waren. Die Stille war mir sehr unangenehm und ich hoffte inständig, dass ich nicht rot wurde.

Doch schließlich brach Lucas das Schweigen: "Du siehst deiner Großmutter sehr ähnlich."

Fand er wirklich? Ich war etwas kleiner als die meisten in meiner Klasse und hatte welliges, honigblondes Haar, das mir ungefähr bis zu den Schulterblättern reichte. Ich tanzte Ballett und liebte das Gefühl dabei zu fliegen. Nana dagegen hatte kurzes, graues Haar und war sogar noch kleiner als ich. Für ihr Alter war sie sehr fit und liebte Yoga, doch auch leckeres Essen, weshalb sie ein kleines Bäuchlein hatte.

"Meinst du?", fragte ich deshalb verwundert.

"Also vom Gesicht her natürlich. Die gleichen sturmgrauen Augen, der Mund und so weiter", erklärte er.

"Du siehst vom Gesicht her deinem Großvater auch sehr ähnlich", meinte ich zurück, "Ihr habt die gleichen Augen."

Für einen Moment lächelte er, doch dann schaute er traurig in die Blätter des blühenden Rhododendrons. "Das sagt meine Mutter auch immer."

Er tat mir leid und das erste Mal dachte ich daran, dass auch er seine Familie zurücklassen musste. "Hast du Geschwister?", fragte ich neugierig.

"Ja, ich hab' einen kleinen Bruder, Lui, er ist sechs und wird nach den Ferien eingeschult. Es tut mir so leid, dass ich nicht dabei sein kann."

Lucas schaute weg und ich überlegte kurz, ob ich ihm meine Hand auf die Schulter legen sollte, doch ich traute mich dann doch nicht.

"Ihr steht euch sehr nah, oder?", fragte ich stattdessen und biss mir kurz danach auf die Zunge, weil ich ihn doch nicht noch trauriger machen wollte.

Doch Lucas lächelte nur: "Ja, unser Vater ist kurz vor seiner Geburt abgehauen und seitdem bin ich eine Art Ersatz für ihn. Ich habe immer auf ihn aufgepasst."

"Ich habe einen großen Bruder und eine kleine Schwester. Jona und ich stehen uns auch sehr nahe und keiner kennt mich besser als sie."

Ich lächelte traurig und im gleichen Moment fiel mir die Sache mit dem Arm wieder ein. Ich würde Nana später darauf ansprechen.

"Das alles ist ganz schön hart", seufzte Lucas und ich nickte.

"Was ich dich noch fragen wollte", wechselte ich das Thema, "was ist ein Nebenelement?"

"Oh, es gibt in den Elementfamilien einen Hauptzweig, also den von dir und Holly bei der Luft und einige Nebenzweige, wie meiner. Wir haben schwächere oder leicht veränderte Kräfte", erklärte er.

"Sky, Lucas!", ertönte Nanas Stimme aus einem Fenster über uns, "Kommt rein. Das Mittagessen ist gleich fertig!"

Wir standen auf und machten uns auf den Weg. Und als ich die Schwelle ins Haus überschritt, hatte ich einen Entschluss gefasst:

Ich würde in das Land Hinn'fotur in dieses Camp gehen, denn wenn Lucas das schaffte, dann konnte ich das auch und außerdem war mir klar geworden, dass ich niemals allein sein würde.

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