Kapitel 9

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Selbst das schönste Abenteuer ist kein Abenteuer, wenn du es mit niemandem teilen kannst.

Ich weiß, dass ich hier ein Außenseiter bin, der einzige, der das Zirkusleben romantisiert. Für alle anderen ist das hier weniger Abenteuer und mehr harte Realität: harte Arbeit und kein Entkommen, weil es keinen anderen Job gibt, den Leute, die kaum Deutsch sprechen können, bekommen können.

Als ich Vale am Eingang winken sehe, durchflutet mich ein Gefühl der Freude, das mich vollkommen einnimmt. Sie hier zu sehen – an einem Ort, der für uns beide etwas Besonderes ist, jemand, mit dem ich meine Begeisterung für den Zauber des Zirkuslebens teile – fühlt sich fast surreal an.

Meine Schwester und ich liegen an diesem Abend nebeneinander in meinem Abteil und sprechen über alles, was sie in der Show gesehen hat – eine Show, die ich mittlerweile auswendig kenne. Ihre Augen leuchten, und ein Redefluss überkommt mich, zusammen mit einem Gefühl von unkontrollierbarer Freude und Aufregung, auf die ich gewartet habe, seitdem ich meinen ersten Fuß ins Zirkusgelände gesetzt habe.

Sie redet und redet, und ich rede und rede, beide fast atemlos vor Aufregung. Die Artisten, die Akrobatik, das Lichtermeer, die Spannung in der heißen Luft – für Vale ist es genauso magisch wie für mich, und sie staunt über Kleinigkeiten, die für mich mittlerweile ganz normal sind.

Wir reden bis tief in die Nacht. Als sie schließlich auf Nikitas Nummer zu sprechen kommt, versuche ich, meine Begeisterung nicht zu sehr zu zeigen. Doch ich erzähle ihr alles, was ich über ihn weiß – und dass er hier praktisch eine Berühmtheit ist.

Ich sage ihr sogar, dass wir schon ein paar Mal miteinander geredet haben, versuche dabei jedoch, so neutral wie möglich zu bleiben, obwohl mein Herz dabei schneller schlägt. Es tut so gut, all das mit Vale teilen zu können und jemanden zu haben, dem ich mich wirklich öffnen kann – zumindest über das meiste. Natürlich spreche ich nicht darüber, was Nikita in mir auslöst. Diese Gefühle bewahre ich lieber für mich.


Es ist früher Morgen, die Dämmerung liegt noch am Horizont, und ich bin hochentschlossen, gleich wieder zurück in den Wohnwagen zu gehen und mich in meine Decke zu kuscheln. Ich schließe den Bademantel, den ich anziehe, wenn ich nur schnell zum Toilettenwagen muss, und meine Füße werden nass vom Schlamm, den meine Schlappen nicht abhalten. Egal. Schnell einfach aufs Klo.

Aus dem Zelt kommt Musik, die ich nicht kenne. Entweder probt jemand eine neue Nummer, oder ein neuer Artist übt seine Darbietung. Außerdem habe ich gehört, dass die Artisten oft Quatsch machen, Lieder anmachen und eine Nummer improvisieren. Das würde ich gerne mal sehen. Aber nur, wenn...

Nikita. Er läuft an mir vorbei, schlaftrunken, seine Haare zerzaust, und kommt gerade aus Robins Abteil. Robin. Mein Kollege, der ständig schlecht über Nikita spricht. Wenn Nikita dich was fragt, ist die richtige Antwort immer nein.

Ich verstehe es nicht. Warum sollte Robin... Hat Nikita jetzt was mit Robin, oder war das nur... Der kann überzeugend sein, wenn er was will.

Aber es ist nicht nur diese Tatsache, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. Es ist auch der Anblick von ihm: verschlafen, sein Gesicht noch weich und zerzaust, die Augen leicht gerötet, während er sich den Schlaf aus den Augen reibt. Sein Hoodie ist viel zu groß und lässt seine Hände darin fast verschwinden, und er trägt nur Boxershorts. Das alles zusammen ergibt ein Bild von ihm, das mir fast den Atem raubt.

Als er mich bemerkt, sieht er mich kurz an, und ein kleines, müdes Lächeln huscht über seine Lippen. Kein schiefes Grinsen, kein amüsiertes Lächeln – nur ein sanftes, freundliches Nicken, das mich trotzdem irgendwie berührt. In diesem einen kleinen Lächeln schießt mir nämlich nur ein einziges Bild einer Erinnerung durch den Kopf: sein Kopf in meinem Nacken.


Am Abend steht eine Party an – die Geburtstagsfeier für Simba. Ich nehme Vale natürlich mit, schließlich soll sie das richtige Zirkusleben kennenlernen, nicht nur das Arbeiten und die Show. Einige Leute haben sich in der improvisierten Cafeteria versammelt, und jemand hat Getränke und Snacks bereitgestellt sowie Musik über einen Lautsprecher abgespielt.

Spätestens nach dem zweiten Glas wird meine Schwester lockerer, lacht und redet genauso mit wie alle anderen. Meine Freunde mögen sie sofort. Kein Wunder – Vale hat diese mitreißende Art, sich für jede Kleinigkeit zu begeistern. Das haben wir beide gemeinsam.

Während die Party tobt, wandert mein Blick immer wieder suchend durch die Menge. Aber er taucht einfach nicht auf. Vielleicht weil es Simbas Geburtstag ist.

Später, als die Menge sich etwas gelichtet hat, sitzen wir in einer kleineren Runde zusammen, mit Vale und einigen meiner Freunde. Beim Thema Simba dauert es nicht lange, bis das Thema Nikita aufkommt – und plötzlich dreht sich alles um ihn und Simba und ihre gemeinsame Geschichte.

Vale sitzt gespannt neben mir, während die anderen anfangen, über Nikita und Simba zu reden. Als würden alle sich endlich trauen, das auszusprechen, was sie schon lange denken.

„Die sollen echt heftig aneinander gehangen haben. Oder besser gesagt: Simba an Nikita."

„Warte, die waren echt zusammen?"

Simba heißt natürlich nicht wirklich Simba. Irgendjemand hat sich den Spitznamen für ihn ausgedacht, anscheinend, weil er wie ein Löwe aussieht – blonde, dichte Locken und Sommersprossen überall – und weil er auch noch zufällig der Dompteur ist.

Das Thema ist mir nicht neu, aber ich habe nie die ganze Geschichte gehört, nur Bruchstücke, die oft unterschiedlich ausfallen. Aber eine Sache ist in jeder der Geschichten immer ganz eindeutig: Dass Nikita mit ihm Schluss gemacht hat.

„Jim hat mir erzählt, dass Nikita damals noch minderjährig war." Die anderen nicken. „Das hab ich auch gehört. Aber da war Simba ja nicht der einzige."

„Aber von was für einem Altersunterschied sprechen wir denn? Nur ein paar Jahre? Oder ... schlimmer?"

„Ne, Simba ist nur zwei Jahre älter als er."

„Hat Simba ihn nicht auch zu Sachen gezwungen?"

„Oh mein Gott, was?"

Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. Ich sehe meine Schwester an, die fassungslos wirkt und offensichtlich kaum glauben kann, wie gechillt die Leute über so schlimme Dinge reden, als wäre das völlig normal. Doch in ihrer Neugier ist sie wie gefesselt, während die anderen weiterreden.

„Ja, kein Wunder, dass er dann Schluss gemacht hat", fügt Alex hinzu. „Simba ist so am Arsch seitdem, weil Nika es ja auch so offensichtlich zeigt, dass er ihn hasst."

Wenn auch nur ein Teil dieser Gerüchte stimmt, muss ihre Beziehung schlimm gewesen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gewesen sein muss – aber es macht mir auch unbehaglich klar, dass das Leben hier im Zirkus für manche wirklich alles andere als ein Märchen ist.

Vale und ich schweigen eine Weile, verloren in Gedanken, während die anderen weiter über das Thema flüstern. Ich sehe, wie sie alles in sich aufnimmt, sich aber auch, genau wie ich, fragt, wo Wahrheit aufhört und Gerücht beginnt.

Nikita (Deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt