Ein Geschenk aus der Dunkelheit

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Die Tage nach unserer Flucht waren geprägt von Stille und Ungewissheit. Meine Mutter hatte uns tief in den Norden geführt, zu einem verlassenen Tempel, der zwischen hohen Bergen lag. Der Tempel war alt, seine Wände von Moos und Frost bedeckt. Niemand kam hierher – es war ein Ort, der von den Mythen der Oni als „verflucht" galt. Für uns war es ein Schutzraum.

Mein Vater lag in einer der hinteren Kammern des Tempels, seine Wunden waren schwer. Die Schatten, die ihn umgeben hatten, waren nicht einfach verschwunden. Sie hatten sich wie Ketten um ihn gelegt, seine Kräfte versiegelt und seinen Körper geschwächt. Meine Mutter verbrachte Stunden an seiner Seite, ihre Magie und ihre Tränen nutzend, um ihn zu heilen. Doch ich konnte die Angst in ihren Augen sehen – sie war nicht sicher, ob er es schaffen würde.

Währenddessen blieb ich oft allein, streifte durch die leeren Hallen und suchte nach einem Zeichen, einem Hinweis, was ich tun sollte. Meine Kräfte waren neu und beängstigend. Ich hatte die Angreifer vertrieben, ja – aber ich hatte auch gesehen, wie meine Magie außer Kontrolle geraten war. Ich fühlte mich wie eine fremde in meiner eigenen Haut, ein Chaos aus Feuer und Schatten, das nicht wusste, wohin es gehörte.

Ein Traum voller Dunkelheit

In einer kalten Nacht, als ich alleine in einer der zerfallenen Kammern schlief, hatte ich einen seltsamen Traum. Ich stand in einer weiten, schwarzen Leere, und vor mir war nichts – nur Dunkelheit, so dicht und schwer, dass ich kaum atmen konnte.

„Miyu."

Die Stimme war vertraut. Sie war tief und ruhig, und als ich mich umdrehte, sah ich ihn. Mein Vater stand vor mir, nicht in seinem verletzten Zustand, sondern so, wie ich ihn kannte – stark, mit leuchtenden Augen und dem Schatten, der ihn wie eine zweite Haut umgab.

„Papa?" Meine Stimme zitterte, und ich rannte auf ihn zu, doch er hob die Hand.

„Ich bin nicht wirklich hier, mein Stern. Das ist... eine Verbindung. Meine Kräfte schwinden, aber ich wollte dich noch einmal sehen."

„Nein!" rief ich, meine Augen brannten vor Tränen. „Das kannst du nicht sagen! Du wirst wieder gesund!"

Er lächelte sanft, ein trauriges Lächeln, das mein Herz brach. „Ich weiß es nicht, Miyu. Aber selbst wenn ich gehe, werde ich dich nicht verlassen. Ich habe etwas für dich... etwas, das dich beschützen wird."

Ich wollte fragen, was er meinte, doch bevor ich sprechen konnte, begann der Schatten um ihn herum sich zu bewegen. Er formte sich, schlang sich zusammen, bis aus der Dunkelheit eine Gestalt hervortrat.

Es war ein Wolf. Klein, kaum größer als ein Welpe, mit tiefschwarzem Fell, das das Licht verschluckte, und leuchtend blauen Augen – genau wie die meines Vaters.

„Das ist Ryuu," sagte mein Vater. „Er ist ein Teil von mir, ein Schatten, der mit meiner Seele verbunden ist. Er wird dich beschützen, wenn ich es nicht mehr kann."

Der Welpe trat näher, seine Augen blickten in meine, und ich fühlte eine seltsame Wärme, trotz der Dunkelheit, die ihn umgab. Ich kniete mich hin und streckte die Hand aus, und er legte seine Pfote in meine.

„Ich bin immer bei dir, Miyu," flüsterte mein Vater, und bevor ich etwas sagen konnte, verschwand er.

Ein neuer Begleiter

Ich wachte mit einem Keuchen auf, mein Herz raste. Für einen Moment dachte ich, es sei nur ein Traum gewesen – doch dann hörte ich es. Ein leises Winseln.

Ich setzte mich auf und sah ihn. Ryuu lag zusammengerollt an meinem Fußende, sein Fell so schwarz wie die Nacht, seine blauen Augen leuchteten im schwachen Mondlicht.

„Du..." flüsterte ich, und er hob den Kopf, seine Ohren zuckten. Langsam kam er auf mich zu, und ich fühlte, wie eine seltsame Verbindung zwischen uns entstand – eine Wärme in meiner Brust, die all meine Angst und Zweifel für einen Moment verschwinden ließ.

Ich nahm ihn in meine Arme, und er leckte meine Hand, ein leises Knurren drang aus seiner Kehle. Es war kein bösartiges Knurren – es war, als würde er mir sagen: „Ich bin hier. Und ich werde bleiben."

Die erste Prüfung

Ryuu war nicht nur ein einfacher Schattenwolf. Innerhalb von Tagen wurde mir klar, dass er mehr war als nur ein Begleiter. Er schien meine Gefühle zu spüren, meine Gedanken zu kennen. Wenn ich wütend war, wurde sein Fell von einer seltsamen Dunkelheit durchzogen, die wie Rauch um ihn herum waberte. Wenn ich traurig war, legte er seine Pfote auf mich, und ich spürte eine tröstende Energie, die mich beruhigte.

Doch die Ruhe hielt nicht lange an. Die Jäger hatten unsere Spur wieder aufgenommen, und eines Nachts standen sie vor dem Tempel. Diesmal waren es nicht nur Oni und Schattenwölfe – es war etwas anderes, etwas Größeres. Es war, als hätten sie die Elemente selbst gerufen, um uns zu vernichten.

„Miyu, du musst laufen!" rief meine Mutter, während sie sich den Angreifern entgegenstellte.

„Ich werde nicht ohne dich gehen!" schrie ich zurück. Ryuu stand neben mir, die Zähne gefletscht, sein Fell glühte mit einer seltsamen, violetten Energie.

Die Jäger kamen näher, und ich spürte, wie die Kräfte in mir erwachten. Die Verbindung zwischen Ryuu und mir wurde stärker, und zum ersten Mal verstand ich, was mein Vater gemeint hatte. Ryuu war nicht nur ein Beschützer – er war ein Teil von mir.

Zusammen kämpften wir. Meine Flammen und seine Schatten verschmolzen, bildeten eine wirbelnde Kraft, die die Angreifer zurückdrängte. Doch es war kein einfacher Sieg. Die Anführer der Oni und der Schattenwölfe waren mächtig, und es war nur der Mut meiner Mutter, der uns Zeit verschaffte, um zu fliehen.

Ein Funke der Hoffnung

Als der Morgen graute, standen Ryuu und ich auf einem hohen Hügel, von dem aus wir den Tempel in der Ferne sehen konnten. Meine Mutter war bei mir, ihre Kleidung zerrissen, ihre Augen voller Schmerz – aber auch voller Entschlossenheit.

„Wir können nicht immer fliehen, Miyu," sagte sie leise. „Die Welt wird uns immer jagen, weil wir anders sind. Aber du... du hast etwas, das sie nicht verstehen. Etwas, das sie fürchten."

Ich blickte auf Ryuu hinab, der an meiner Seite saß, sein Atem ruhig, seine Augen wachsam. In ihm sah ich meinen Vater, seine Stärke und seine Liebe.

„Ich werde kämpfen, Mama," sagte ich schließlich, meine Stimme fest. „Nicht nur für uns. Sondern für das, was Papa wollte – eine Welt, in der Feuer und Schatten zusammen existieren können."

Und so begann unser nächstes Kapitel. Mit Ryuu an meiner Seite und der Flamme in meinem Herzen wusste ich, dass unser Weg schwierig sein würde. Doch ich hatte eine Hoffnung, einen Funken, der heller brannte als je zuvor.

Die letzte SchattenflammeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt