Liebe Emily,
mit diesem Schreiben möchte ich dir meine Bewunderung ausdrücken. Ich gratuliere dir vielmals für den ersten Platz des Literaturwettbewerbes! Du hast dich so bemüht und versucht deinen Ehrgeiz zu verbergen, aber ich wusste immer, wie sehr du dich angestrengt hast, um uns stolz zu machen. Aber die Wahrheit ist, wir waren immer schon stolz auf dich. Immer. Du hast ein einzigartiges Talent und das blieb niemandem verborgen, selbst wenn du nicht den ersten Platz erreicht hättest, weißt du das?
Du bist ein wirklich herzlicher Mensch und man kann mit dir lange und tiefgründige Gespräche führen. Du hast die Gabe Erzählungen lebhaft darzustellen und ich liebe es deine Geschichten zu lesen. Ich bin so stolz deine Zwillingsschwester zu sein, Emily! Du weißt ja selber, wie oft du mir schon früher Geschichten erzählen musstest und meine Deutschhausaufgaben machen musstest, weil du es einfach immer perfekt gemacht hast.Und nicht nur einmal hast du es geschafft, mir zu helfen; und sei es auch nur durchs Zuhören, wenn ich ein Problem hatte. Du hast dir diesen Preis wirklich verdient, Schwesterherz und ich glaube zu wissen, wie viel es dir bedeutet.
Emily, du bist so besonders, du schaffst es, dass Menschen sich in deiner Nähe wohlfühlen, ohne dass du etwas dafür tun musst.
Du bist so weit gekommen und wirst Alles schaffen, was du dir für die Zukunft vornimmst; wenn du dich bemühst und dahinterstehst wie bisher. Ich werde dich dabei unterstützen und werde da sein wenn du mich brauchst.
Bleib wie du bist, in Liebe
Giulia
Tief atmend hielt sie die Tränen zurück, die heiß in ihre Augen stiegen. Warum bestrafte sie sich eigentlich immer selbst. Nicht, dass Giulias Brief in irgendeiner Weise strafend gewesen war. Aber sie konnte und wollte es nicht zulassen; dass sich ihr Leben seit damals verändert hatte. Und sie sich. Dabei war sie eine neue Person, eine andere Emily; mit neuem Gesicht, neuem Charakter. Und das einzige, was sie tun konnte war zu leben und zu tun, als wäre das alles ein schlechter Traum. Die traurige Wahrheit, die sie von Zeit zu Zeit feststellen musste war, dass sie sich nicht davor verstecken konnte. Das klappte nie. Und trotzdem tat sie seit vier Jahren nichts anderes.
Oft kam es zu Zusammenbrüchen, für die es nicht mal einen konkreten Zusammenhang mit Giulias Tod geben musste. Manchmal war es einfach das Gefühl, alleine zu sein. Aber meistens waren es die guten Momente, die sie von anderen miterlebte, welche sie derart an ihren Verlust erinnerten, dass sie weinend in der Bahn saß oder beim Spazieren nicht mehr gehen konnte und sich am liebsten auf dem Boden zusammengerollt hätte und einfach dort liegen geblieben wäre. So lange bis der nächste Regen sie komplett durchnässte und sie vor Kälte nichts mehr spüren konnte.