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Der Schmerz lässt einen die Zukunft aus dem Blick verlieren.
Man weiß nicht, was man möchte. Vor der Hilfe versteckt man sich, lässt es nicht an sich ran, weil man es nicht verdient hat und auch nicht weiß, was aus einem werden soll.
Man kann sich keine zukünftige Zeit ohne den Schmerz und schlimme Gefühle vorstellen, weil man dann Nichts mehr wäre, weil der Schmerz Besitz von einem ergriffen hat, einen eingenommen hat.
Was wäre man denn sonst?
Der Schmerz war momentan der einzige Grund, an dem sie ihre Existenz ausmachen konnte.
Angst vor dem Nichtsein. Angst vor dem Sein.

Seit Wochen ging es Emily immer schlechter. Sie war vollkommen alleine, geradezu isoliert. Einmal die Woche hatte sie einen Gesprächstermin bei Dr. Folder, doch auch danach ging es ihr meist schlimmer. Sie hatte das Gefühl, dass alles realer und greifbarer wurde, wenn sie über ihr Leben, ihre Trauer sprach. Die meiste Zeit machte sie es sich – unbewusst – damit erträglicher, dass sie all das gar nicht als ihr Leben betrachtete. Emily fühlte sich eher wie eine Beobachterin, die zwar alles miterlebte, diese Empfindungen dennoch nicht wirklich ein Teil von ihr waren.

Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt noch eine Stimme hatte. Ihr Leben war so leise. Die einzigen immer wiederkehrenden Geräusche ihrerselbst waren während des Weinens.
Seit bestimmt einer Viertelstunde hatte sie auf den Notizblock neben sich geschaut, mit dem Telefon in der Hand. Die Nummer, welche sie vor ein paar Tagen rausgesucht und aufgeschrieben hatte, war von einer kostenlosen Hotline, die psychische Notfälle rund um die Uhr entgegennahm. Schon an jenem Tag hatte sie den halben Tag vergeudet, indem sie mit sich gerungen hatte, dort anzurufen. Oder wenigstens ihren Arzt. Aber sie könnte nicht Dr. Folder anrufen. Er wusste nichts von ihren Einbrüchen, von ihrer instabilen Persönlichkeit, die von Tag zu Tag brüchiger wurde. Das dachte Emily jedenfalls. Und sie wollte und konnte sich es sich auch nicht eingestehen. Und nicht den einzigen Menschen enttäuschen, zu dem sie überhaupt regelmäßigen Kontakt hatte.

Es war als drehte sie sich im Kreis. Und es gab kein Entkommen für sie.Und jede Sekunde drängte sich ihr Vorhaben in den Vordergrund. Angetrieben von diesen uneinsichtlichen Gefühlen machte sie sich auf den Weg. 10 Minuten musste sie von ihrer Wohnung aus laufen, um den Friedhof zu erreichen. 

Und Emily lief den Weg. Sie lief ohne nachzudenken. Vorbei an all den vertrauten Häusern und den alltäglichen Erscheinungen. Zwischendurch verließ sie die Kraft und Emily taumelte, doch trotzdem folgte sie dem Weg.
Der Friedhof lag etwas abgeschieden von der Hauptstraße, dementsprechend herrschte eine stille Atmosphäre. Zusätzlich war sie die einzige Besucherin des Abschnittes, in dem sich Giulias Grab befand. Emily stand nun davor und betrachtete jenes Grab, das eher ein normales Blumenbeet in irgendeinem Vorgarten hätte sein können, als ein Zeugnis eines aus dem Leben getretenen Menschen. Blumen aller Art und in jeglichen Farben zierten das kleine Stückchen Erinnerung an ihre Zwillingsschwester. Und auf einem Stein, der unter all den Blumen und Pflanzen versteckt lag, war der Name Giulia fein säuberlich eingraviert. Das war alles. Mehr hätte Emily nicht ausgehalten zu sehen. Sie brauchte die Anonymität, was auch der Grund für all die Pflanzen auf dem Grab war. Sie kam sowieso nur unregelmäßig her, aber wenn sie dort war, war die Einsamkeit und Stille zu laut und sie musste sich setzen, um den Gefühlen stand zu halten.
Und auch jetzt brannten die Tränen in ihren Augen. Aber sie konnte es noch nicht zulassen, noch nicht. Ein innerlicher Schmerz zerriss sie und ein Klagelaut ähnlich wie der eines Tieres entwich ihrer Kehle. Emily zitterte. Die Tränen liefen jetzt ihre Wangen hinab. Sie versuchte zwei Mal tief zu atmen, doch sie fiel in sich zusammen und wurde von tonlosem Schluchzen unterbrochen. Und plötzlich hörte das Zittern auf und sie fasste in ihre Tasche und befühlte das kalte, ebene Metall. Und sie hielt das Skalpell mit der rechten Hand und setzte es an die Pulsader des linken Handgelenks. Ohne zu lange zu zögern, drückte sie die kalte Spitze in das zarte Gelenk und zog die Klinge tief durch das Fleisch. Sofort quoll Blut durch die offene Wunde. Doch sie spürte keinen Schmerz. Emily spürte das Gefühl ihrer linken Hand schwinden und sie konnte eben noch die Klinge greifen, als sie am rechten Gelenk eine ebensolche Wunde hinterließ. Sie konnte die Pulsadern jeweils pochen sehen und sie hatte sie an einigen Stellen freigelegt und getroffen, sodass sie schnell viel Blut verlor und es sich am Boden bereits in einer kleinen Lache ansammelte. Starr vor Schreck ließ Emily das Metallstück fallen und unfähig sich zu bewegen, fiel auch sie auf den Boden, in ihr eigenes Blut. Was passiert hier? Sie spürte absolut gar nichts, außer dass ihr schlecht war und ihr gesamter Körper von Panik erfüllt war und unwillkürlich zu zucken anfing. Ich kann nicht, kann nicht.. – Emily versuchte den Kopf zu heben und mit einer Hand an ihr Handy zu kommen; es lag nur wenige Zentimeter entfernt auf dem Boden, mit Blut befleckt. Aber es gelang ihr nicht sofort, ihr Kopf wurde schwer und fiel unkontrolliert nach hinten und ihr wurde schwarz vor Augen; vor Übelkeit und Schwindel. Doch ihre Fingerspitzen erreichten endlich, nach mehreren Minuten und Versuchen, das Telefon und mit nochmals enormen Kraftanstrengungen zog sie es zu sich heran und bemühte sich auf dem glitschigen Bildschirm die Nummer des Notarztes zu wählen. Die Verbindung baute sich auf und nach wenigen Sekunden wurde abgenommen: »Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?«. Emily stöhnte auf, vor Kummer und Schmerzen und versuchte ihre Gedanken zu Sätzen zu bilden. »Hallo? Ist da jemand?«, abermals die weit entfernte Stimme aus dem Telefon. »Ich.. ich brauche Hilfe. Ich bin Emily, ich blute und kann mich nicht bewegen.. am Waldfriedhof«. Es war sehr schwierig in zusammenhängenden Worten zu sprechen. »Miss hören Sie mich? Hilfe ist auf dem Weg zu ihnen. Bleiben Sie ruhig und warten Sie bis der Krankenwagen bei Ihnen ist.«
Ihre Kleidung war mittlerweile blutdurchtränkt und Emily war zu schwach, die Blutung zuzudrücken. Ich brauche doch nur Hilfe.. ich hab was ganz Dummes gemacht. Ihre Augen fielen zu, doch sie wusste, sie durfte jetzt nicht einschlafen, dem inneren Sog nachgeben, aber ihr Kopf drohte zu zerbersten und die Sekunden wurden zu Stunden. Oh Giulia.



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