8

14 1 0
                                    

Meine Augen. Das war Emilys erster Gedanke, den sie zwischen all den Schmerzen und kreischenden Geräuschen wahrnehmen konnte. Ich kann meine Augen nicht öffnen! Was geschieht hier? Langsam, sehr langsam begann sie ihren Körper zu spüren. Die Schmerzen konnten Körperteilen zugeordnet werden. Kopf. Arme. Brust. Rücken.

Aber eigentlich wanderten die Schmerzen durch ihren gesamten Körper, flossen durch ihre Adern wie flüssige Gewichte, die man nicht einfangen konnte. Niemals. Wo bin ich? Angestrengt versuchte sie herauszufinden, was die Geräusche verursachte, doch Denken kostete Kraft und sie fühlte sich hilflos und schwach.

Für einen Moment stiegen die Lasten aus ihrem Körper, ihrem Kopf nach oben, verließen sie und wuchsen zu einem Sturm über ihr zusammen. Alles Schlechte stieg auf und drehte sich. Unmittelbar über ihr. Der Verstand war frei. Tod.

Und alles, was abgegeben worden war, brach über ihr in sich zusammen, wie ein tobendes Meer, dessen Wellen mit giftigen Schaumkronen versehen war. Diese gewaltige Kraft drückte auf ihre Lunge, bis sie nicht mehr atmen konnte. Ihr Bewusstsein setzte aus.

»Miss Carter? Können Sie mich hören?« Der Arzt wartete ein paar Sekunden, bevor er den nächsten Versuch startete. »Sind Sie fähig die Augen zu öffnen?«, Dr. Brandon beobachtete Emilys Reaktion sehr genau. Er hatte im Gefühl, dass seine Patientin wach war, die Pulsmessgeräte hatten ihn aufmerksam gemacht. Seit einer halben Stunde gab es immer wieder unregelmäßige Ausschläge. Das alleine war zwar nichts beunruhigendes, dennoch hatte es etwas zu bedeuten. Und wie er vermutete, war dies ein Zeichen dafür, dass Emily Carter dabei war ihr Bewusstsein wiederzuerlangen. Tatsächlich blinzelte sie in diesem Augenblick mit den Augen. Ganz leicht, so als würde jede Bewegung einen riesigen Aufwand bedeuten. Zeitweise sah es so aus, als ob sie Mühe hatte, die Augen wirklich ganz zu öffnen. Es war als würde sie innehalten und überlegen, ob dies wirklich das Richtige zu tun war.

Mit sanfter Stimme versuchte er zu ihr durchzudringen, wo immer sich ihr Bewusstsein gerade befinden mochte. »Immer weiter so, Emily. Sie haben es fast geschafft.« Und nach ein paar Sekunden blinzelte sie immer heftiger, und sie schaffte es endlich beide Augen vollständig zu öffnen. Der erste Schritt war getan.

Die Farben des Raumes schienen grell in ihre Augen, obwohl alles einheitlich grau weiß gehalten war. Emily blickte sich um, ohne den Kopf zu drehen. Die lauten Geräusche in ihrem Kopf schienen jetzt greifbarer, klarer. Sie befand sich in einem Krankenhausbett, mit kontinuierlich piepsenden Geräten neben ihr, deren Schläuche in ihren Körper führten. Sie registrierte nun vollends den Zusammenhang zwischen ihren Verbänden an den Handgelenken, den Gewirr aus Schläuchen über und neben ihr und den diversen Geräten, die Töne von sich gaben, um ihren Zustand zu überwachen und ein panischer Laut drang aus ihrer Kehle. »Emily, können Sie mich hören? Ich bin ihr Arzt Dr. Brandon, haben Sie keine Angst. Alles ist unter Kontrolle.« Immer noch von Panik erfasst, versuchte Emily sich in die Richtung des Arztes zu drehen, der links neben ihr gestanden hatte, nun aber zum Fußende ihres Bettes getreten war. Doch auch nur der leiseste Versuch den Kopf zu heben kostete sie wertvolle Kraft. Alles ist unter Kontrolle? Schien hier irgendwas unter Kontrolle oder auch nur annähernd okay zu sein? Sie hatte zwanzig Zentimeter lange Verbände an beiden Handgelenken, sie konnte sich nicht bewegen, hatte höllische Schmerzen, Schläuche in ihrem Körper und kaum eine klare Erinnerung, wie das alles geschehen war.

»Emily Carter, es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Sie lagen 3 Wochen lang im Wachkoma.«, natürlich hatte der Arzt ihre Blicke bemerkt und fuhr deshalb weiter fort: »Die Schläuche sind dazu da, um Ihnen die Schmerzen erträglicher zu machen und Ihnen Nährstoffe zuzuführen. Wie Sie sich vielleicht erinnern können«, er zögerte und sah ihr dann unvermittelt in die Augen, »Sie haben den Notruf gewählt und viel Blut verloren. Ein paar Minuten länger und jede Hilfe wäre zu spät gekommen.« Pause. »Ihr Zustand ist stabiler, jedoch werden sie Zeit zu einer vollständigen Genesung brauchen. Erinnern Sie sich eventuell, wie es dazu kam?«

Blut verloren. Zeit brauchen. Schmerzen erträglicher machen. Sie haben den Notruf gewählt. Ein paar Minuten länger und jede Hilfe wäre zu spät gekommen. Wachkoma. Gedankenfetzen wirbelten in ihrem Kopf umher, sodass sie die Augen abermals schließen musste. Es gab keine Worte, nichtmal Gedanken für das, was sie gerade fühlte. Was ihr Herz schmerzen ließ. Was passiert mit mir? Völlige Desorientierung erfasste ihr Bewusstsein und ließ sie hilflos zurück in diesem Krankenhauszimmer mit all den Fragen und Schmerzen, die ihr niemand erklären konnte. Aber sie wusste was passiert war. Es erschien ihr nur so unendlich weit weg, so unbegreiflich. Sie hatte versucht sich umzubringen. Aber selbst den Notruf gewählt. Aus plötzlicher Angst. Nicht vor dem Tod selbst, nein. Aus Angst, was danach geschehen könnte. Was, wenn die Schmerzen niemals enden würden? All die Gedanken, die sie quälten, die Emily in ihrer Gewalt hatten. Sodass sie ihnen nicht entkommen konnte, nicht in 4 Jahren und niemals in ferner Zukunft. Das war unvorstellbar.


VororteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt